Die dritte Generation!

Im Deutschen Theater sprach Jürgen Kuttner mit Gunnar Decker über dessen Buch »1965. Der kurze Sommer der DDR«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Wie viel Hölderlin steckt in dem FDJ-Agitationslied »Sag mir, wo du stehst«? Am Mittwoch diskutierte Jürgen Kuttner am DT in Berlin mit Gunnar Decker über dessen Buch »1965. Der kurze Sommer der DDR«.

Manchmal bewegt sich der leichte Vorhang am Treppengang des oberen Foyers. Als wehe aus dem großen Saal des Deutschen Theaters etwas herauf und herüber. Die Geister in den Wänden eines Bühnenhauses. Hier gab es 1981 Büchners »Dantons Tod«, Regie: Alexander Lang. Immer mal wieder taucht in Essays von Gunnar Decker diese Inszenierung auf. In seinem Buch »1965. Der kurze Sommer der DDR« schreibt er: »Diese Inszenierung war für mich vielleicht vergleichbar mit dem, was Wittenberg für Hamlet war: Eroberung des Feldes des Negativen als Kraftquell für Autonomie, Distanzmedium gegen sich aufdrängende kollektive Gewissheiten.«

Das Übel der Geschichte als Suchfeld für Chancen. Das bitterst Hässliche als Anschauungsmaterial für kommende Bewährungen. Darüber denkt Decker in seinem Buch über Vorfeld und Nachfeld jenes DDR-Jahres 1965 nach, das im Dezember mit dem film- und bücher- und bildervernichtenden ZK-Plenum der SED seinen verhängnisvollen Abschluss fand. Mit Jürgen Kuttner sprach der Autor, den an deutscher Geschichte immer wieder »die Schmerzzentren der Literatur« bewegen, am Mittwochabend im DT.

Decker liest, Kuttner fragt, Decker antwortet. Kuttner, wie immer: kein stringenter Gesprächsleiter, eher ein Streuner durch gedankliche Gelegenheiten, flatternd zwischen Müdigkeit und Müpfigkeit; er nimmt das Leben an der Quasselstrippe, lässt die Stichworte umherhüpfen an der langen Leine seiner spontanen Eingebungen. Decker bringt Ruhe rein. Er liest aus den Kapiteln über den mysteriösen Tod von Ulbrichts Plankommissionschef Erich Apel (unaufgeklärter Pistolenschuss im Arbeitszimmer), über Stephan Hermlins Lyrik-Abend in der Akademie der Künste, über Frank Beyers DEFA-Film »Spur der Steine«. Szenen aus diesem Hoffnungswinkel, nach dem Bau der Mauer sei dem Staatsgefüge innerhalb der Verengung doch auch mehr Freiheit sich selbst gegenüber möglich. Reformer gegen Dogmatiker, und Deckers feinfühlig, präzis aufgebaute These: Der Kampf - den die Dogmatiker gewannen - war (womöglich) nicht von vornherein entschieden. Was dem nachmaligen Erschrecken über den stalinistischen Tugendterror das Empfinden von Tragik beigesellt.

Erinnerung will nicht nur wissen, wie es war. Erinnerung spielt auch. Spielt durch, was durchfiel. Spielt nach, was ausblieb. Erinnerung trügt und trägt. Just ihre nachholende Genauigkeit kann trügen, während ausgerechnet ihre Unzuverlässigkeit trägt. Denn uns treibt, was wir nicht fassen können, nicht hinnehmen wollen. Das ist Genuss wie Gefahr. Erinnerung ist die Spezialistin für Nachschlüssel - an Türen, die nie geöffnet wurden. Der Möglichkeitssinn in der Historienschreibung: Er ist das Sinnlose, sagt die Geschichte und legt die Fakten vor; er ist das Sinnvolle, sagen die Geschichten und stellen sich vor, dass ...

Es folgt ein schönes Beispiel für die Unübertragbarkeit von Erinnerung. Auf der Videoleinwand Hartmut Königs FDJ-Hit »Sag mir, wo du stehst«. Decker sitzt still, aber du siehst ihm an, was er an Abwehr unterdrücken muss. Kuttner sitzt auch still, legt sich aber, bewusst übertrieben, ein lächelndes Entzücken übers Gesicht. Ich sitze im Saal und unterdrücke meinen Fuß nicht, der einverstanden mitwippt. Das Einverstanden von damals. »Wir haben ein Recht darauf, dich zu erkennen (...) zeig mir dein wahres Gesicht«. Der Liedtext strahle eine »Verhörsituation« aus, sagt Kuttner, ja durchaus, aber sei da nicht auch etwas von Hölderlins »Komm ins Offene, Freund«? Schiebe das Lied nicht auch die Wolken auseinander für den Himmel der Utopie: der Maskenlosigkeit? Decker: »Ich glaub dem kein Wort!«

Kuttner, Jahrgang 1958, Decker Jahrgang 1965. Mit Decker spricht eine DDR-Generation, die zu beträchtlichem Teil nicht mehr erreichbar war von Oktoberklub und FDJ-Poetenseminar. An der abprallte, was doch auch ehrlich gemeinte, aufbauende Wirkung sein sollte. Decker steht für eine in den grauen Verhältnissen »erstorbene« Generation, die aufbrausend oder still, in Vereinzelung oder Gruppierung längst mit »Selbstbefreiung« beschäftigt war, wie der Autor im Prolog seines Buches schreibt. Nur raus aus dem Elend der permanenten Bewusstseinsnötigung, der fortwährenden »Gefangensetzung«.

Dass sich Denken in der DDR unter nahezu eingeborener Pression vollzog, gehört zum erledigten Müll einer Erziehungsdiktatur. Decker verwendet diesen Begriff zu Recht, aber er fragt nach der Legitimation, mit der vom Westen eine vereinnahmende, einseitige Geschichtsschreibung betrieben werde, die alles über Vergehen und Verwesen der DDR gleich mitliefere - aber dabei keinen Nerv zeigt für das Werden und keine Offenheit besitzt für das Wesen einer neuen, alternativen Gesellschaftsidee.

Deckers Buch: wie sich in Ulbrichts Mühen um neue Wirtschaftsformen mählich Honeckers Kälte etabliert. Wie Moskau auf Berlin drückt. Wie mit der Lyrikwelle junger Aufbruchswille aufplatzt wie Blütenreichtum mitten im Beton. »Sturm und Drang, das hatte etwas Genialisches« (Decker). Wie Wolf Biermanns Selbstgewissheit einschlägt wie ein Blitz (das Gewitter aber kommt von der Partei; es reinigt nicht, es säubert). Wie auf dem Plenum der Zwischenrufmord fröhlich Leichen sammelt. »Kulturbarbarei« nennt Decker das Plenum im Dezember 1965.

Kuttner erinnert an Hanns Eislers Wort an den verbotsgestraften Heiner Müller, selbst ein Verdikt offenbare doch den Respekt des Staates gegenüber den Künstlern. Zweckdienlicher Zynismus - aber auch Wahrheit. Und die Konsequenz derer, die das Land verließen, war genauso ein Wert wie die Konsequenz jener, die im Lande blieben. Und oft waren die Gründe für das eine wie das andere - die gleichen. Alfred Kurella gehört zu den Einpeitschern gegen Hermlins Lyrikabend, gleichzeitig verhindert er die Exmatrikulation des Leipziger Philosophiestudenten Volker Braun, dessen Gedichte in Berlin präsentiert worden waren. Immer also diese Willkür, diese Parallelität von Kette und Kulanz, von Verfemen und Verzeihen. Die Diktatur als Amme, die Amme eine Zuchtmeisterin. Die DDR als Erbin der Arbeiterbewegung. Aber nichts kam mehr aus einer Bewegung heraus, außer einer: dem Zug der Arbeiter in die Nische.

»Ein bisschen Frieden«, so Decker, wollten alle. »Fünfzig Jahre Barrikaden, das nervt ja auch«, so Kuttner. Kleine Debatte jetzt über das Kleinbürgerliche. Darin versank das große sozialistische Ideendrama? Es ging in einem Konflikt unter - zwischen der Mission, den Menschen übers Niveau seines Mittelmaßes zu heben, und dem Bedürfnis des Menschen nach einer Freiheit, nach einer Unbelangbarkeit, nach einem Wohlleben, das genau in diesem Mitte-Maß Erfüllung findet. Untergegangen die Anmaßung, die Hybris. Der Knacks hat gesiegt. Aber Decker fragt in die allgemeine Egomesse hinein: »Wo ist der soziale Standort speziell der Intellektuellen heute?«

Zwischendurch Videoschnipsel aus den sechziger Jahren. Eine DDR-TV-Debatte über neue Preise bei Damenstrümpfen. Ein musizierender Lehrer in der Talentesendung »Herzklopfen kostenlos« trällert »Ich singe, weil ich glücklich bin.« Und er will, arg holpernd, »dass alle es sind«. Der füllige Heinz Quermann, wie er vom Schlager zum Schlag ausholt: Auf dem Parteitag 1963, so ein weiterer Videoausschnitt, rabaukt er gegen Epigramme Günter Kunerts, dass sich die Genossen auf die Schenkel hauen, als wären die der Kopf des Dichters.

Das Video-Schlusswort hat Heiner Müller. Er liest ein Gedicht Brechts über den 1. Mai. Der Fahne Rot trifft sich im Reim mit dem Brot. Das alle sättigt. Müller lächelt, ja ja, naiv, ein Traum, aber der sei nicht erledigt, in brotlosen, rotlosen, ratlosen Zeiten. Der Traum kehre zurück, jede nächste Generation träumt ihn, »oder jede zweite. Oder jede dritte!« Er schlägt das Buch hörbar zu. Den Blick geradeaus gerichtet. Aber nicht in die Ferne. Von fern kommt nichts. Gunnar Decker in seinem Buch: Befreiung komme »nicht von außen, sondern von innen«. Ein Satz übers Vergangene und für jede Zeit.

Gunnar Decker: »1965. Der kurze Sommer der DDR«. Hanser Verlag, 494 S., geb., 26 €. Am 7. Oktober, 18.30 Uhr, bei »nd im Club«: Martin Hatzius mit Gunnar Decker im Gespräch.

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