Menschenwürde auf dem Prüfstand

ALG-II-Sanktionen bringen tausende Menschen in Existenznot - Koalition hält daran fest

  • Roland Bunzenthal
  • Lesedauer: 4 Min.
Es war nicht überraschend: Am Donnerstag lehnte der Bundestag mit Mehrheit der Koalition die Abschaffung von Sanktionen bei Hartz IV ab. Verfassungsrechtlich und ethisch bleiben sie weiter umstritten.

Nach den »Sünden« seiner Klientel befragt, gibt der Sprecher der Bundesagentur für Arbeit (BA) diese präzise Auskunft: Meldeversäumnisse 1810 Fälle, verspätete Meldung als arbeitsuchend 23 109 Fälle, Ablehnung eines angebotenen Jobs 1261 Fälle, Aufgabe des Arbeitsplatzes 1607 Fälle. Dieses Strafregister des vergangenen Jahres umfasst die Sperrzeiten im Kompetenzfeld der BA - dazu gehören die Arbeitslosen erster Klasse, die Bezieher von Arbeitslosengeld I. Dagegen müssen die Erwerbslosen zweiter Klasse, ALG-II-Bezieher, ihren Bedarf beim Jobcenter nachweisen. Sie erhalten die Leistung, weil sie bereits an der untersten Einkommensgrenze angelangt sind - dem soziokulturellen Existenzminimum, das Armut in Relation zum durchschnittlichen Wohlstand bemisst.

Darf diese Untergrenze vorübergehend unterschritten werden - etwa als Strafe für unvorschriftmäßiges Verhalten? Sozialgerichte in Gotha und Dresden haben diese Frage kürzlich eindeutig mit Nein beantwortet und nun das Bundesverfassungsgericht angerufen. Die Karlsruher Richter sollen darüber befinden, ob durch Sanktionen für ALG-II-Bezieher Artikel 1 des Grundgesetzes verletzt wird: »Die Würde des Menschen ist unantastbar« - es sei denn, die Staatskassen sind leer. Tatsächlich waren sie noch nie voller als heute.

Pflichten und Sanktionen

Wer Sozialleistungen bekommt, hat nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Verstoßen ALG-II-Bezieher dagegen, können die Jobcenter schnell Sanktionen verhängen. Das geschieht rund eine Million Mal im Jahr. In Paragraf 31 des Sozialgesetzbuches II ist geregelt, welche Strafmaßnahmen für welche Verfehlungen vorgesehen sind.

Es wird zwischen der Verletzung von Verhaltenspflichten und der von Melde- und Mitwirkungspflichten unterschieden. Der Verstoß gegen erstere wird härter bestraft, weil ALG-II-Bezieher alles tun müssen, um ihre Hilfebedürftigkeit zu verringern oder zu beenden. Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt dürfen nicht abgelehnt werden. Ebenfalls sanktioniert wird, wer keine Eingliederungsvereinbarung abschließt, nicht genug Bewerbungen schreibt oder eine Weiterbildung abbricht.

Beim ersten Verstoß darf das Jobcenter die Regelleistung um 30 Prozent kürzen. Bei einem weiteren innerhalb eines Jahres dürfen die Bezüge um 60 Prozent gekürzt werden, bei jeder folgenden Pflichtverletzung entfällt der Anspruch ganz. Sprechen wichtige Gründe gegen eine Arbeitsaufnahme - Erziehung von Kindern unter drei Jahren, Pflege von Angehörigen oder psychische/körperliche Schwierigkeiten - wird der Bezieher nicht bestraft.

Verletzt er seine Melde- und Mitwirkungspflichten, drohen ihm beim ersten Verstoß Leistungskürzungen von zehn Prozent. Das kann der Fall sein, wenn der Betreffende nicht zu einem Termin erscheint oder eine ärztliche oder psychologische Untersuchung versäumt. Bei jedem weiteren Verstoß innerhalb eines Jahres wird die Leistung um weitere zehn Prozent reduziert. Krankheit gilt als Entschuldigung, anschließend muss der Bezieher aber seinen Pflichten sofort nachkommen.

Auch bei anderen Verstößen können die Jobcenter Leistungen kürzen, etwa wenn jemand sein Vermögen in der Absicht vermindert hat, Leistungen zu beantragen oder wenn der Bezieher zu viel Strom verbraucht oder hohe Telefonkosten verursacht. grg

Bei den Sperrzeiten der BA handle es sich gar nicht um Sanktionen, betont der Sprecher der Behörde, sondern eben nur um Sperrzeiten. Dabei wird das Arbeitslosengeld I, obwohl eine Versicherungsleistung, in der Regel für drei Monate um 30 bis 60 Prozent gekürzt und damit häufig das Existenzminimum in dieser Zeit deutlich unterschritten. Doch der eigentliche Verstoß gegen die Menschenwürde erfolgt im Harz-IV-System: Die Höhe des Regelsatzes wurde so festgelegt, dass er das Existenzminimum gerade nicht unterschreitet. Wird er gekürzt, passiert aber genau das. Da Kürzungen um bis zu 100 Prozent möglich sind, stellt sich die ganz zentrale Frage, welchen Wert das Wort Sozialstaat da noch haben kann.

Im Juni 2014 beschäftigte sich der Bundestag schon einmal mit den Sanktionen. Anderthalb Stunden hatten die Abgeordneten zur Verfügung. Das reichte, um den Gesetzentwurf der LINKEN, der die vollständige, bedingungs- und ersatzlose Abschaffung von Sanktionen forderte, abzuschmettern. Am Donnerstag stand die Frage erneut auf dem Prüfstand, LINKE und Grüne hatten je einen Antrag auf Abschaffung der Sanktionen vorgelegt. Die Linkspartei bleibt bei ihrer kompromisslosen Forderung, die Grünen wollen die Sanktionen aussetzen, bis eine Evaluation erfolgt ist. CDU/CSU und SPD lehnten beide Anträge ab, die Grünen enthielten sich beim Antrag der LINKEN.

Als vor zehn Jahren die Vorschläge des VW-Managers Peter Hartz und seiner Kommission Gesetz wurden, ahnte die damalige rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder (SPD) wohl nicht, welche juristische Lawine sie lostrat. In zigtausenden Prozessen vor den Sozialgerichten wurden mühsam Rechtsbegriffe wie »angemessen« oder »zumutbar« geklärt. Wie viele Quadratmeter darf die Wohnung eines Hartz-IV-Beziehers haben? Soll er im Winter weniger heizen und lieber frieren? Ist ein langer Arbeitsweg zumutbar? Darf die Einstellung unter dem Fachniveau des Erwerbslosen erfolgen?

Wenn sich der Arbeitslose weigert, jeden Billigjob anzunehmen oder womöglich als Lohndrücker eingesetzt wird, ist es an der Zeit, die Systemfrage zu stellen: Wie hältst du es mit der Menschenwürde? Im statistischen Warenkorb findet sich, was Menschen hierzulande für ein Leben in Würde und mit gesellschaftlicher Teilhabe benötigen. Denn anders als die in Entwicklungsländern übliche Definition der absoluten Armut, die durch das physische Überleben bestimmt ist, steht die Armutsgrenze hier in Relation zum Lebensstandard der übrigen Bevölkerung. Wie willkürlich sie festgelegt wird, zeigt sich beim Zuwachs des Regelsatzes im nächsten Jahr um bescheidene fünf auf monatlich 404 Euro.

Kein Wunder, dass sich Arbeitslose wie der Berliner Ralph Boes mit einem Hungerstreik gegen Sanktionen auflehnen und organisierte Erwerbslose unter dem doppelsinnigen Slogan »AufRecht bestehen« auf die Straße gehen. Der Verein Tacheles schreibt im »Leitfaden ALG II/Sozialhilfe«: »Seit der Hartz IV-Reform wurde das Sozialgesetzbuch II 63 Mal geändert, ohne handwerkliche und existenzbedrohende Mängel zu beseitigen. Vom ›Fördern und Fordern‹ ist nur noch das ›Fordern‹ übrig geblieben, weil die Mittel für Eingliederungshilfen fast halbiert wurden. Fehlerhafte Bescheide, unbegründete Sanktionen, freihändige Kürzungen der Unterkunftskosten, Verletzung von Beratungspflichten, Behördenwillkür usw. Im zehnten Jahr der Hartz-IV-Reform verläuft die Praxis der meisten Jobcenter überall, nur nicht in rechtsstaatlichen Bahnen.«

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