Von Schuld und Schulden

Späte Ehre für Reinhard Strecker, den Pionier der NS-Aufarbeitung in Westdeutschland

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Ende zeigte die Veranstaltung vor allem, dass sie viel zu spät kam. Aus dem 85-Jährigen wollten so viele Geschichten auf einmal heraus, dass das Podiumsinterview scheiterte, das die Historiker Michael Kohlstruck und Claudia Fröhlich mit ihm zu führen versuchten. So blieb gerade für das jüngere Publikum etwas vage, wie und warum Reinhard Strecker in den frühen 1960er Jahren zu einer der meistgehassten Figuren der Bundesrepublik wurde, wer ihn unterstützte, wer gegen ihn vorging und was er bewirkte.

Geehrt wurde Strecker am Mittwoch im Justizministerium für die Wanderausstellung »Ungesühnte Nazijustiz«, die er mit Hilfe von Studierenden 1959 zusammenstellte. Und für sein 1961 erschienenes Buch über den damals noch allmächtigen Adenauer-Staatssekretär Hans Globke, den Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, der, wie Strecker nachwies, schon vor dem Beginn des Nazireichs ein antisemitisches Namensrecht entworfen hatte. Justiz-Staatssekretär Christian Lange nannte Strecker auf der von der Berliner Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit organisierten Veranstaltung einen »Pionier der kritischen Vergangenheitspolitik«. Er setzte sich und seine Familie dabei Morddrohungen aus. Offenbar wurden sogar Geheimdienste mobilisiert. Gegen einen jungen Mann, der nichts anderes tat, als Akten zusammenzutragen - und dessen Familie im »Dritten Reich« rassistisch verfolgt worden war.

Als der in Zehden an der Oder geborene Strecker, so erzählt er selbst in einem Interview in einem 2013 erschienenen Band von Gottfried Oy und Christoph Schneider, 1954 nach Jahren im Ausland in die Bundesrepublik zurückkam, war er entsetzt vom Ausmaß der »Renazifizierung«. Er habe mit Recherchen über die Karrieren von Juristen und Medizinern begonnen, um seinen Eltern zu erklären, warum er unmöglich in Deutschland bleiben könne. Später wurde ein Projekt daraus - das von Studierendenverbänden bis hin zum RCDS zumindest ideell unterstützt wurde, während die »Erwachsenen« sich feindselig verhielten.

Gerd Bucerius (1906-1995) etwa, damals für die CDU im Bundestag und bis heute hoch angesehener Gründer der »Zeit« sowie Eigner des Nannen-Verlags und damit des »Stern«, schickte einen Reporter mit Strecker zu Recherchen nach Prag - um dann anzuordnen, nicht zu berichten. Aber auch die SPD behandelte ihn als Aussätzigen: Jener Unvereinbarkeitsbeschluss, mit dem sich die Sozialdemokratie 1961 vom ihr ehemals nahen Studierendenverband SDS lossagte, nahm ausdrücklich auf die Ausstellung des SDS-Mitglieds Strecker Bezug.

Hinter dieser Front stand nicht nur die Schlussstrichmentalität, sondern auch ein Antikommunismus, der Strecker - wiewohl »wütender Antistalinist« - zutiefst erschreckte. Zwei Jahre zuvor hatte nämlich in Ost-Berlin um Albert Norden die Kampagne gegen die »Blutrichter« begonnen. Davon war Strecker beeinflusst - und es gelangten Akten aus der DDR in seinen Besitz. Wie genau, sagt er bis heute nicht. Oy und Schneider gegenüber spricht er von »Freunden aus der DDR«, die er in internationalen Zügen traf. Vielleicht schweigt Strecker aus alter Gewohnheit. Denn dass er »Propaganda« aus dem Osten zumindest in Teilen bestätigte, war stets Grund für die vielsagende Rede über »Hintermänner«. Auch das Verhältnis zu Norden wollte er am Mittwoch nicht erläutern: Er scheint eine gewisse Nähe zu dem Rabbinersohn in der SED-Führung verspürt zu haben, der es dort »nicht leicht gehabt« habe; zugleich nannte er ihn einen »Intimfeind«, mit dem er sich über die Vereinigungsfrage überworfen habe. Beim Ost-Berliner Globke-Prozess von 1963 war Strecker Zeuge. In der DDR war er dennoch nicht gern gesehen. »Keine Zeile« bekam er vom Institut für Zeitgeschichte in München.

Hatte Bonn die Ausstellung durch Entzug von Räumen und das »Imprägnieren« ausländischer Journalisten durch diffamierende Bundespresseamt-Dossiers bekämpft, traten beim Globke-Buch - wie Strecker glaubt - Geheimdienste auf den Plan. Bereits vor der Fertigstellung des Manuskripts bei einem zur Bertelsmann-Gruppe gehörenden Verlag war das Kanzleramt alarmiert. Das Buch schrumpfte zum Taschenbuch, was Kürzungen der Dokumentation mit sich brachte; Globke klagte wegen kleiner Ungenauigkeiten, die beim Kürzen entstanden waren. Am Ende packte Strecker die Erstauflage frisch aus der Maschine ein und verschickte sie auf einen Rutsch an »zuverlässige« Buchhändler.

Strecker erreichte allmählich eine erhebliche Öffentlichkeit; auch darauf ist zurückzuführen, dass Bonn 1961 eine Frühpensionsregelung erließ, aufgrund derer rund 140 problematische Richter aus dem Dienst schieden - wenn auch mit vollen Bezügen und ohne Aufsehen. Die fast 50 von Strecker angestrengten Verfahren endeten dagegen ohne ein Urteil. Erst in den 1980er Jahren fand das düstere Kapitel quasi-offizielle Anerkennung; die Betreffenden spielten da freilich längst Golf.

Strecker selbst hatte nicht viel von seiner Arbeit an der Schuld. Kürzlich bekam er das Bundesverdienstkreuz - doch beim Goethe-Institut blieb er stets auf niedriger Besoldungsstufe. Und so hat er, wie er auch am Mittwoch andeutete, offenbar bis heute Schulden.

Gottfried Oy /Christoph Schneider: Die Schärfe der Konkretion. Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie. Verlag Westfälisches Dampfboot. 250 S., br., 24,90 €.

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