Schlaflos in Ulcinj

In seinem Roman »Der Sohn« erzählt Andrej Nikolaidis die Geschichte eines misanthropischen Schriftstellers

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Romane des 1974 in Sarajewo geborenen Schriftstellers Andrej Nikolaidis sind immer wieder in dem montenegrinischen Touristenort Ulcinj an der Adria angesiedelt. Der Ort war auch schon Schauplatz seines zuletzt auf Deutsch erschienenen Romans »Die Ankunft«, in dem Nikolaidis einen bizarren Weltuntergang in Szene setzt. Für seinen im bosnischen Original bereits 2006 erschienen Roman »Der Sohn« erhielt er den Europäischen Literaturpreis. Darin erzählt er die Geschichte eines misanthropischen Schriftstellers, der eine Nacht lang durch seinen Heimatort Ulcinj streift, Unmengen von Alkohol in sich hineinschüttet, zahlreichen Menschen aus seiner Vergangenheit begegnet und immer wieder über das Verhältnis zu seinem Vater nachdenkt.

Denn mit dem hat der Titel gebende Sohn und Ich-Erzähler schon seit langer Zeit keinen Kontakt mehr, obwohl die beiden nur einen Steinwurf voneinander entfernt wohnen. Als der namenlose Ich-Erzähler von seiner Frau verlassen wird und am selben Abend plötzlich der Hügel gegenüber seines Hauses mitsamt dem darauf vom Onkel angepflanzten Olivenhain abbrennt, macht er sich auf den Weg und zieht durch die von Touristen bevölkerte Küstenstadt. In Rückblenden berichtet er von seinem Bruder, der durch einen von ihm verschuldeten Unfall ums Leben kam, davon wie sein Vater ihm das schließlich vergeben hat und wie er sein ganzes Leben unter diesem Großmut litt. Auch zur Mutter hatte er ein problematisches Verhältnis. Ihrem Wusch, sie zu töten, als sie unheilbar erkrankte, kam er nicht nach. Er konnte es seinen Eltern einfach nie recht machen. Entsprechend verabscheut er das ganze Konzept Familie zutiefst, weil es ihn heimsucht wie ein Fluch, dem er letztlich nicht entkommen kann.

Mit seiner Figur des Sohnes entwickelt Andrej Nikolaidis ein regelrechtes Scheusal, das wortgewandt, aber ungemein zynisch über Familie und Nachbarn herzieht, jede Menge Sexismus und klassistischen Kulturpessimismus inklusive. Wobei natürlich alles auf eine Läuterung der Hauptfigur hinausläuft, nachdem der junge, von seiner Frau verlassene und am Sohn-Status permanent verzweifelnde Mann nur lang genug trinkend durch seinen Heimatort streift. Die introspektiven Erzählteile mitsamt den zahlreichen Rückblenden verknüpft Andrej Nikolaidis dramaturgisch großartig mit den bizarren Kleinstadterlebnissen seines Anti-Helden. Das Motiv scheiternder Familien zieht sich stringent durch den Roman. Denn auch die Fremden, Bekannten und Freunde, denen der Ich-Erzähler begegnet, leiden an den Heimsuchungen familiären Unglücks.

Da ist sein ehemaliger Mitschüler Uros, der auf dem Schulhof stets gequält wurde und den seine Frau irgendwann verließ, um mit genau dem Alpha-Männchen zusammenzukommen, das einst die Demütigungen auf dem Schulhof organisierte. Samir war einmal der begabteste Nachwuchspianist der Gegend, aber da er während des Studiums seine große Liebe nicht heiraten konnte, wandte er sich dem Islam zu und wurde wahabitischer Prediger, der jetzt den Kleinstädtern mit seinen moralischen Tiraden mächtig auf die Nerven geht. Und der heruntergekommene Duro bietet in den Nachtbars seine Töchter als Prostituierte an.

In all diesen Familiengeschichten voller Täter und Opfer ist das Vergeben die zentrale Kategorie, um die auch die Gedanken des Ich-Erzählers kreisen. Denn der, so wird am Ende klar, will sich eigentlich nur mit seinem Vater versöhnen. Und so begibt er sich ganz am Schluss des Romans auf den Weg, um das Haus seines Vaters aufzusuchen. Und dort macht er eine überraschende Feststellung.

Andrej Nikolaidis: Der Sohn. Roman. Verlag Voland & Quist, 144 S., geb., 16,90 €.

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