Terror im pulsierenden Herzen von Paris

In den sonst belebten Arrondissements 10 und 11 herrscht Trauer und Wut über die Attacken

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Auswahl der Anschlagsorte in Frankreichs Hauptstadt spricht für ein Attentat auch auf Integration, Zusammenhalt und Lebensfreude.

Auf einer der Terrasse sitzen, die Herbstsonne beim Essen oder Getränk genießen und das Treiben auf der Straße beobachten - bis vergangenen Freitag war das Alltag vor dem »Petit Cambodge«, dem »Carillon«, dem »Belle Equipe«, dem »Casa Nostra«, der »Brasserie Voltaire«. Bis die Attentäter kamen und mit Maschinenpistolen in die Menge schossen. Jetzt sind diese Restaurants im Ausgehviertel von Paris geschlossen. Vor ihnen liegen Blumen und Kerzen.

Von den Anwohnern kennt fast jeder mindestens eines der Todesopfer. »Im Carillon hat an diesem Abend die Belegschaft eines benachbarten Restaurants den Jahrestag der Gründung gefeiert«, erzählt Mohamed, der in dieser Straße einen kleinen Blumenladen betreibt. »Neun von ihnen sind jetzt tot, darunter die Frau des Wirts, die praktisch in seinen Armen gestorben ist.« Er ist selbst Muslim und hat keinerlei Verständnis für die Attentäter. »Die handeln nicht nach dem Koran, den sie bestimmt nicht einmal gelesen haben. Wir leben hier friedlich mit allen anderen Menschen zusammen. Wir haben unser Auskommen und fühlen uns als Franzosen. Das können diese Fanatiker nicht ertragen.«

Dass die Terroranschläge vor allem dem 10. und dem 11. Arrondissement von Paris galten, war ganz bestimmt kein Zufall. Das Viertel, das sich zwischen dem Platz der Republik, dem Platz der Nation und dem Bastille-Platz beziehungsweise zwischen dem Kanal Saint-Martin und den Großen Boulevards erstreckt, vereint vieles von dem, was für die islamistischen Fanatiker ein rotes Tuch ist. Mehr noch als andere Viertel der Hauptstadt ist es ein Schmelztiegel von Menschen unterschiedlichen Alters und verschiedenster sozialer Stellung, Herkunft oder Religion.

Vor mehr als 300 Jahren ließ König Ludwig XIV. als Demonstration für die durch ihn gewährleistete Stabilität und Sicherheit der Hauptstadt hier die nach seinem Vorgänger Karl V. benannte Stadtmauer abreißen und eine breite Allee anlegen - die Großen Boulevards, die heute die zentrale Achse dieses Viertels darstellen. Am damaligen Stadtrand, siedelten sich Gartenlokale, Kabaretts und auf leichte Kost spezialisierte Theater an. Aus dieser Zeit stammt der im Deutschen gebräuchliche Begriff des »Boulevardtheaters«. Von denen gibt es heute noch mehrere Dutzend. Eins davon, das 1864 im Stil einer chinesischen Pagode erbaut wurde und zunächst ein »Café-Concert« war, ist nach einer Operette von Jacques Offenbach benannt: »Le Bataclan«.

Es dient heute als Konzertsaal, hier starben am Freitagabend 89 Menschen durch die Schüsse und Sprengsätze der Terroristen. Der populäre Schauspieler Jacques Weber, der gegenwärtig in dem an den Großen Boulevards gelegenen Dejazet-Theater die Hauptrolle in Molières »Geizhals« spielt, meint: »Um den islamistischen Scharfmachern die Stirn zu bieten und zu zeigen, dass sie die Pariser nicht einschüchtern können, sollten alle Theater der Stadt zumindest ein paar Tage lang kostenlos spielen.« Leider geht es den fast durchweg privaten Theatern nicht so gut, als dass sie seiner Anregung folgen können.

Wenige Meter weiter ist der Platz der Republik seit Tagen Treffpunkt vieler Pariser oder Besucher der Hauptstadt. Eigentlich verbietet der Ausnahmezustand größere Menschenansammlungen, aber hier mahnt die Polizei nur hin und wieder zum Weitergehen. Auf die Frage, warum gerade dieser Platz mit der riesigen Figur der Marianne die Menschen und auch ihn anzieht, sagt Michel Ernault aus Dijon, sie symbolisiere die demokratische und laizistische Republik und ihr Motto von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. »Dazu bekennen wir uns alle hier. Und das ist den Islamisten ein Dorn im Auge.«

Zu Unruhen anderer Art kam es hier früher. Eine alte Kaserne erinnert an die einstige Stationierung von Soldaten in dem Arbeiterviertel. Ein solches ist es heute nicht mehr, dazu sind zu viele Bewohner durch gestiegene Mieten in die Vororte verdrängt worden. Vielmehr spielt sich das abendliche Leben von ganz Paris vor allem im 10. und 11. Arrondissement ab, insbesondere seit das Pariser Viertel Saint-Germain-des-Prés am linken Ufer der Seine mit seinen legendären Bars und Jazzkellern zu einer versnobten Flaniermeile verkommen ist.

Nachgezogen sind mehr und mehr gut verdienende Angehörige der Mittelschichten. Aber das Viertel ist nach wie vor volkstümlich und »sozial durchmischt«, wie Rémi Féraud, der sozialistische Bürgermeister des 10. Arrondissements betont. Nach wie vor gibt es zahlreiche afrikanische Friseure, chinesische Kosmetiksalons, kurdische Schneidersalons, jüdische Läden und arabische Cafés. »Das ist ein Patchwork von Rassen und Klassen, die gelernt haben, aufeinander einzugehen und die gut und ohne größere Konflikte miteinander auskommen«, meint auch Olivier, der Lehrer ist und trotz seines bescheidenen Einkommens alles daran setzt, hier wohnen bleiben zu können. »Das ist eine Mischung, die frisches Blut gebracht hat und für pulsierendes Leben sorgt. Es ist kein Wunder, dass unser Viertel sowohl rechtsextremen Identitäts-Trommlern als auch islamistischen Fanatikern gegen den Strich geht«, ist Olivier überzeugt.

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