Rufe in die Kälte der Zeit

Der Komponist Helmut Lachenmann wird 80

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Fast immer fror es in seiner Musik. Selbst in seinen Klavierstücken für Kinder mit einem Schuss Schubertscher Ängste darin. Hochgradig in seinem Musiktheater »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, das - unlängst in der Deutschen Oper Berlin erfolgreich aufgeführt - hoffentlich nicht das einzige bleiben wird. Was immer aus seiner Feder floss, es schien, als würden es Rufe in die Kälte der Zeit wie deren Echos sein.

Sehr vernehmlich wird diese Art zu denken und zu komponieren in den Werken seiner frühen Periode. Heute schreibt der 1935 geborene und in Leonberg bei Stuttgart lebende Komponist etwas anders als in den Jahren, nachdem die 68er Jugend aufgebrochen war und die Institutionen von innen her wenn nicht sprengen, so doch revolutionieren wollte. Daran tat er kräftig mit.

Indessen ist seine Musik längst durchgesetzt. Helmut Lachenmann bereist die Welt. Nirgendwo Bauchschmerzen mehr, noch das Grantigste seines Oeuvres aufzuführen. Veranstalter und Produzenten überschlagen sich förmlich. Ganze Festivals - international - gibt es allein zu seinem 80. Geburtstag. Dutzende CDs sind erschienen. Den alten Kram der Institutionen in die Luft zu jagen, wie Lachenmann es umso mehr vorgeführt hat, je mehr er sein Tonmaterial zergliedert und destruiert hat, scheint beinahe vergessen. Seine »Anti-Ästhetik« - von Anfang bis Ende durchreflektiert - Schall und Rauch?

Der Betrieb schluckt heute noch die hässlichsten Kröten. Teufel mutieren zu Engeln und umgekehrt. 1970 war es noch eine Tat, entlang der Ränder oder auf Grenzen fruchtbar zu komponieren. Lachenmann war hierin ein Vorreiter. Ganze Orchester, auch Chöre, mussten, so sie überhaupt willens dazu waren, überwiegend Geräusche produzieren. Geräusche allerdings der strukturiertesten Art. Besonders ohrenfällig in »Kontrakadenz« für großes Orchester 1970/71, »Accanto. Musik für einen Klarinettisten mit Orchester« 1975/76 oder der »Tanzsuite mit Deutschlandlied« 1980. Werke, die zugleich Versuche bisweilen schmerzhafter Selbstverständigung waren. Radikalität, wie er sie verstand, nötigte dieselbe ihm auf.

Abgearbeitet hat sich der Komponist an der Kategorie des Schönen, weil seine Gegner sie bei ihm am meisten vermissten. Durch die Brille des glänzenden Materialanalytikers, der die Bedingungen seiner und fremder Musik untersucht und ausdrückt, hat er in zum Teil angriffslustigen Essays auch über die Qualen und Ängste des nachdenklichen Individuums innerhalb des kompositorischen Prozesses gesprochen und sich polemisch abgegrenzt von den Neosymphonikern, den komponierenden Spontis oder den blind positivistischen Strukturalisten, die nichts als das kompositorische Verfahren im Blick haben.

In dem Vortrag »Über das Komponieren«, den er im Juni 1986 in der Hochschule der Künste Berlin (West) gehalten hat, heißt es: »Ich misstraue dem Komponisten, der genau weiß, was er will, denn er will meist das, was er weiß: also zu wenig. Komponieren im Sinn meiner dritten Beobachtung (Komponieren als nicht sich gehen, sondern kommen lassen) heißt: herauskriegen, was überhaupt hinter dem ersten Willensimpuls - Strawinsky würde sagen: hinter dem ersten Appetit - für ungeheure Landschaften von Möglichkeiten sich auftun, von denen der erste inspirative Funke nur ein Abglanz, eben ein Funke war. Komponieren muss heißen: sein unmittelbares, notwendigerweise begrenztes Wollen überlisten, die ersten Visionen über sich selbst hinaustreiben, der eigenen Phantasie über ihre Grenzen hinweghelfen (...) Komponieren, als sich nicht gehen, sondern sich kommen lassen, heißt sich verändern, Krisen riskieren.«

Stücke wie das 1967 entstandene »Consolation I« für zwölf Stimmen und vier Schlagzeuger oder die Kammermusik »Allegro sostenuto«, vollendet 1988, markieren Bausteine der Ton- und Denklandschaft eines leidenschaftlichen und kompromisslosen Künstlers, dessen Maxime die ästhetische Negation des Bestehenden geblieben ist, während aberdutzende ältere und jüngere Komponisten sich im Bedienen der Normen des Musikbetriebs gefallen und wirklich originelle neue Musik heutzutage rar zu sein scheint. Gleichwohl wird Lachenmanns hohes Können besonders unter jungen Künstlern hoch geschätzt.

Sein wichtigster Lehrer und Ratgeber war übrigens der große engagierte Luigi Nono. Unter seine Lieblingswerke fallen Nonos »Canto sospeso«, Karlheinz Stockhausens »Gruppen« und die elektronische Kammermusik »Kontakte«, Pierre Boulez’ »Marteau sans maitre«, Luciano Berios »Epifania« und John Cages »Klavierkonzert«. Marksteine für einen Künstler, dessen kreative Quellen nicht aufhören zu fließen. »Mein Traum als Komponist«, schreibt er in seinem hochinstruktiven Buch »Musik als existentielle Erfahrung« (1996), »ist der Traum der ›freien Setzung‹, der Traum von der ›glücklichen Hand‹, der Traum vom ungebrochenen Komponieren. Ich möchte ›singen, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet‹ (Uhland), indes wohnen wir auf Zweigen eines kaputten Waldes.«

An diesem Freitag wird der Komponist 80 Jahre alt.

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