Wenn die große Säuberung kommt

Der »Islamische Staat« ist eine apokalyptische Bewegung, versteht sich aber auch auf Realpolitik

  • Jörn Schulz
  • Lesedauer: 7 Min.

Was will der »Islamische Staat«? Sein Magazin »Dabiq«, von dem bislang zwölf Ausgaben erschienen sind, gibt Auskunft: Mit dem Entstehen des »Islamischen Staats« (IS) und der Ausrufung eines Kalifen, so wird unermüdlich wiederholt, hätten alle Muslime endlich eine Heimat, in der sie gemäß den Regeln ihrer Religion - gemeint ist die Lehre des IS - leben könnten. Und leben müssten. Denn zuvor konnten sie sich damit herausreden, nur die Wahl zwischen der Herrschaft der »Kreuzfahrer« des Westens und der nur vorgeblich muslimischen »Heuchler« zu haben. Nun aber sind alle verpflichtet, für den IS zu kämpfen.

Den Propagandisten des IS ist nicht entgangen, dass die wenigsten Muslime einen Anlass sehen, ihre Sachen zu packen, um sich in staubigen Wüstengebieten von säbelschwingenden Fanatikern terrorisieren zu lassen. Aber beschwerte sich nicht schon der Prophet Muhammad über den Unglauben der Mehrheit seiner Anhänger? »Heute sind die Menschen wie hundert Kamele, unter denen man fast kein einziges findet, das als Reittier geeignet ist«, wird in der zweiten Ausgabe von »Dabiq« beklagt. Die »Heuchler«, zu denen der IS auch Islamisten wie die Muslimbrüder rechnet, sind in der Überzahl.

Ein wenig nachhelfen kann man dem Glaubenseifer schon. Die siebte Ausgabe von »Dabiq«, erschienen nach den Anschlägen in Paris im Januar, widmet sich der »Auslöschung der Grauzone«. Terroraktionen sollen dazu führen, dass »die Kreuzfahrer die Verfolgung der in westlichen Ländern lebenden Muslime verstärken« und sie zur Entscheidung zwischen Apostasie und IS zwingen, bis es nur noch »das Lager des Glaubens und das des Unglaubens« gibt. Schließlich kommt es zum Endkampf, der Name des Magazins ist hier Programm. Die letzte Schlacht vor dem Jüngsten Gericht soll einer islamischen Überlieferung zufolge in der nordsyrischen Stadt Dabiq stattfinden.

Dann »wird es keinen Platz auf der Erde mehr für das Lager des Unglaubens geben«. Man sollte meinen, dass die Herren vom IS damit zufrieden wären. Aber nein, nur die Elite der Glaubenskämpfer darf überleben, es muss also noch »das Große Tier erscheinen und die Heuchler zeichnen, die sich im Lager der Wahrheit verborgen haben« - das Foto eines abgeschnittenen Kopfes unter dem Artikel verdeutlicht, was mit jenen geschehen soll, die das Zeichen eines Heuchlers tragen.

Man muss diese Lehre ernst nehmen. Sie erklärt unter anderem, warum der IS Mitte November mit der Ermordung der chinesischen Geisel Fan Jinghui dem in der Nahostpolitik bislang unambitionierten China den Krieg erklärte: Bei der letzten Schlacht darf keine Großmacht der »Ungläubigen« fehlen. Die Lehre verdeutlicht, dass der IS die Eskalation um jeden Preis betreiben muss. Über Gottes Heilsplan kann man nicht verhandeln, die vorgebliche Rolle des IS darin ist dessen Existenzberechtigung, und für eine apokalyptische Bewegung darf es keinen Stillstand geben. Geht es in Syrien und Irak nicht mehr voran, müssen gar Gebietsverluste hingenommen werden, wie es seit etwa einem halben Jahr der Fall ist, versucht man durch Anschläge in den Ländern der »Ungläubigen« die Dynamik aufrechtzuerhalten.

Dennoch drängt sich die Frage auf: Glauben diese Leute wirklich, dass ein himmlischer Reiter ihnen zur Hilfe eilen wird? Immerhin hat der IS eine Verwaltung aufgebaut, funktioniert als Wirtschaftsunternehmen und setzt neue Maßstäbe in der Propaganda. Seinen spektakulärsten Anfangserfolg, die Eroberung der irakischen Millionenstadt Mossul nebst Erbeutung großer Mengen amerikanischen Kriegsgeräts, verdankte der IS geschickter Bündnispolitik. Militär- und Geheimdienstkader der Ba’ath-Partei haben sich den Dschihadisten angeschlossen, sie wollen ihre führende Stellung im Staat wiedergewinnen. Andere Kämpfer wurden aus besiegten Milizen abgeworben oder zwangsrekrutiert. Auch dass ein beachtlicher Teil der aus dem Ausland Herbeiströmenden vor allem seine Gewaltphantasien ausleben will, kann der IS-Führung nicht entgangen sein.

Aber um die »Heuchler« wird sich am Ende ja das Große Tier kümmern. Bei der Führung dürfte der Fanatismus echt sein, bereits bei al-Qaida in Irak, der Vorläuferorganisation des IS, trat das apokalyptische Denken hervor. Apokalyptiker haben es in der Regel zu eilig, sie bringen es nur zu einer Sekte und verschwinden nach ihrem ersten großen Anschlag, wie Aum Shinrikyo, deren Mitglieder 1995 bei einem Giftgasanschlag in Tokyo 13 Menschen töteten. Doch der IS ist eine hybride Organisation, die Apokalyptik mit Realpolitik verbindet.

Den Glauben an den bevorstehenden Weltuntergang teilt der IS Umfragen zufolge mit 40 Prozent der Ägypter und 72 Prozent der Iraker. Mehr als 30 Prozent der US-Amerikaner meinen, der syrische Bürgerkrieg stehe im Zusammenhang mit dem Armageddon. Doch gefährlich wird dieser Glaube erst, wenn er mit der Vorstellung einhergeht, man müsse nachhelfen, wenn Gott nicht recht zur Sache kommen will. Diese Vorstellung vertraten Ende des 20. Jahrhunderts Geistliche im schiitischen Iran, wo die Apokalyptik nun als wissenschaftliche Fachrichtung gilt, aber die Sache einer einflussreichen Minderheit geblieben ist. Sie zur Doktrin zu erheben, ist theologisches Abenteurertum, kennzeichnet den IS aber noch nicht als unislamisch.

Auch in Staatsdoktrin und Gesellschaftspolitik kann der IS sich auf anerkannte Quellen berufen. Seine Ideologie, der Salafismus, geht auf den Wahhabismus, die Staatsdoktrin Saudi-Arabiens, zurück, die auf dem Hanbalismus beruht, einer der als orthodox anerkannten sunnitischen Rechtsschulen. So verständlich das Bedürfnis der Mehrheit der Muslime ist, den IS auszugrenzen - gänzlich trennen lässt sich die Verbindung nicht. Eine Rechtfertigung für extremistische Gewalt kann man aber ebenso aus dem Christentum und aus dem Nationalismus ableiten, deren gemäßigte Anhänger sich dann mit den gleichen Abwehrmechanismen behelfen. Die Motive der Täter ähneln sich. Bevor Cho Seung-Hui 2007 an der US-Universität Virginia Tech 32 Menschen tötete und nach seiner Ansicht »wie Jesus« starb, schickte er ein Video an den Fernsehsender NBC, in dem er gegen »Ausschweifung« und »Hedonismus« predigte. Der Massenmörder konnte wie die Attentäter von Paris das tatsächliche oder vermeintliche Glück anderer nicht ertragen.

Psychopathen aller Länder, vereinigt euch - so könnte man die globale Rekrutierungsstrategie des IS zusammenfassen. Niemand schließt sich dem IS aufgrund theologischer Studien an. Religiös desinteressierte junge Männer, so geht aus Ermittlungsergebnissen und Bekenntnissen von Dschihadisten übereinstimmend hervor, finden nach einer Art Erweckungserlebnis binnen weniger Monate zu den »heiligen Kriegern«. Was diese Rekruten wirklich glauben, lässt sich nicht feststellen. Bezeichnend sind jedoch die Splatter-Propaganda der abgeschnittenen Köpfe und das Versprechen, dem tapferen Kämpfer winke eine junge Sklavin. Hier wird gezielt ein gewaltaffines Publikum angesprochen, nach der Ankunft erteilt man den Rekruten erst einmal Religionsunterricht.

Rassistische Diskriminierung und soziale Ausgrenzung erklären den Entschluss, sich dem IS anzuschließen, nicht. Es gibt unzählige andere Möglichkeiten, darauf zu reagieren, überdies sind Verpflegung, Unterbringung und Bezahlung beim IS keineswegs besser als in der Banlieue. Die Chance aber, für ein höheres Ziel mit einem großen Knall abzutreten und dabei viele der verhassten Mitmenschen zu töten oder als heiliger Krieger morden, foltern und vergewaltigen zu dürfen, bietet kein westlicher Arbeitgeber. Wo Klassenbewusstsein, Empathie und Selbstwertgefühl fehlen, Männlichkeitswahn aber im Übermaß vorhanden ist, kann die IS-Propaganda auf fruchtbaren Boden fallen. Der Dschihadist hat das kapitalistische Wettbewerbsdenken verinnerlicht und will höher hinaus, als die Verhältnisse es ihm gestatten, wählt aber seine Art des Aufstiegs - zu den viel beschworenen 72 Jungfrauen oder in die Reihen der gefürchteten Killer vom Schlage Jihadi Johns.

Im Nahen Osten profitiert der IS von einer anderen Form der Atomisierung der Gesellschaft. Die ba’athistischen Geheimdienststaaten Syriens und Iraks haben alle Formen des sozialen Zusammenhalts und der politischen Selbstorganisation zerschlagen. Damit zerfielen auch die traditionellen Strukturen, die den Männlichkeitswahn unter Kontrolle hielten. Unter posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychischen Langzeitfolgen der Erfahrungen unter der Diktatur und im Krieg leiden Millionen. Empathielosigkeit und Verrohung sind die häufige Folge.

Dennoch bleibt die große Mehrheit der Muslime im Nahen Osten wie im Westen unempfänglich für die apokalyptische Botschaft, auch das globale Reservoir an Psychopathen ist nicht unerschöpflich. Der Kampf gegen den IS kommt nur langsam voran, da er am Boden überwiegend den schlecht ausgerüsteten nordirakischen und syrischen Kurdenmilizen überlassen bleibt. Der derzeit überwiegend von ihnen getragene, aber über ethnische Grenzen hinausweisende Kampf für einen demokratischen Föderalismus, so diffus das Konzept bislang noch sein mag, ist die politische Alternative zum islamistischen Terror. Erst wenn dieses Konzept die nötige internationale Unterstützung findet, kann der apokalyptische Spuk sein längst fälliges Ende finden.

Jörn Schulz, geb. 1961 in Hamburg, studierte Geschichte und Islamwissenschaft. Seit 1991 schreibt er über Politik, Islam und Geschichte. Er ist Redakteur im Auslandsressort der linken Wochenzeitung »Jungle World«.

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