Stollen und Eierlikör

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 3 Min.

In den letzten Jahren um diese Zeit hatte ich mich mit dem 2-Euro-77-Cent-Stollen schon überfressen und war auf die Januar-Kost umgestiegen. Doch vor einigen Wochen muss jemand in der Kaufhalle am Stollenstand die Preisschilder versteckt haben, so dass ich unbedacht zum Original Dresdner griff, worauf es an der Kasse kurz in meinem Kopf klingelte: 14 Euro! Da ich kein Storno-Freund bin und auf das sagenumwobene Gebäck neugierig war, schritt ich samt dem Stollen souverän nach Hause und behaupte: So einen Original Dresdner muss man bezahlt und gegessen haben.

Jawoll, meine Geschmacksnerven waren wiederbelebt worden! Während der Tage darauf machte es mir nichts aus, wenn diverse Backwarenexperimente nicht preislich ausgeschildert waren und an der Kasse der 9-bis-14-Augenwürfel ins kullern kam. Gut gekauft, gern gekauft; wenn auch ohne Eierlikör.

Den gab es am letzten Freitagabend mehr als genug, als ich mit einigen Kumpels vor der Max-Schmeling-Halle darauf wartete, dass man die Türen und Tore für das Konzert von Motörhead öffnete. Und da ein Herr Geburtstag hatte, bekam er vom Langen zwei Flaschen Eierlikör samt Waffelbechern geschenkt. Mein fünftes Becherchen erhob ich auf Ernst Busch, der keinen Alkohol konsumiert haben soll, bis auf Eierlikör, worauf er einmal ziemlich betrunken ein Lied vom Klassenfeind sang. Das besagt eine Legende, der ich nicht recht glaube, denn bevor man vom Eierlikör betrunken wird, kleben einem die Lippen zu, oder?

»Auf Ernst Busch!«, sprach ich, führte den gelben Trunk zum Mund und wurde von einem unwissenden Umländer gefragt: »Hieß der nicht Wilhelm?« Na gut, kein Vorwurf, wir waren schließlich bei Motörhead, fast, außerdem hatte ich keinen Steglitzer Stollen dabei, Original Kaufhalle.

In der Halle tranken wir endlich ein Bier auf Lemmy, den Frontschreihals an Mikro und Bass. Er wird am 24. Dezember 70 Jahre alt, hoffentlich. Seine dünnen Beine hatte er in Stretch-Hosen gezwängt, was ich mich seit Jahren nicht mehr traue. Allerdings liegt ein nahezu neues Paar im Schrank, und auf dem Jeanswestentrip bin ich auch wieder. Cool, Alter!

Ich traf sogar die vorlaute Frau wieder, der ich vor 20 Jahren in der Küche eine Wäscheleine mit angeklammerten Spiegeleiern an die Wand gemalt hatte. Nun sind die Eier weich, die Frau welk, was sie nicht davon abhielt, zu mir zu sagen: »Bist alt geworden.« Sind wir beide, ich bleibe aber zeitlebens ungeschminkt.

Motörhead jedenfalls, räumten ab, auch wenn good old Lemmy unter seinem großen Hut zu verschwinden drohte, nahezu auf einer Stelle verweilte und seine Kraft nicht für beleidigende Gesten einsetzte. Mir fehlte ein wenig sein lebensfrohes »Fuck you!«, es war trotzdem purer Rock ’n’ Roll.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal