Kunstfiguren und Nachtgespenster

Das Fernsehjahr 2015 geht zu Ende - Ein Rückblick auf Experimente, Schnulzen und Flops

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Zuschauer, das zeigt wie jedes Fernsehjahr auch dieses, dürsten nach Dichotomie. Wahre Helden strahlen ja erst dann so richtig, wenn ihnen ein zünftiger Antagonist in die Heldenparade fährt. Und auch sonst sind Programmplaner gut beraten, von der hiesigen Schnulze über seriellen Import bis hin zum profanen Fußball für Gegensatzpaare zu sorgen, am besten gut vs. schlecht. – Muss aber auch nicht.

Im Mai traten Margarita Broich und Wolfram Koch das Erbe ihrer hessischen Vorgänger an und brachen dabei jenes Gesetz, dem sich die Berliner Meret Becker und Mark Waschke bedingungslos beugten: Tatort-Kommissare sind wie Feuer und Wasser. Auch die harmonischen Dagmar Manzel und Fabian Hinrichs brechen daher TV-Recht, wenn sie in Nürnberg kollegial statt feindselig ermitteln. Der Dauerbrenner machte es 2015 also vor: Dichotom muss nicht dissonant heißen; hybrid darf einträchtig verlaufen. ZDF und Sat1 zum Beispiel können grundverschiedene Versionen desselben Falls verfilmen – das öffentlich-rechtliche Dokudrama mit Thomas Thieme porträtierte den gestürzten Bayernboss Hoeneß nüchtern, doch ebenso unterhaltsam wie Uwe Ochsenknecht als überdrehter Knastkönig Udo Honig.

Auch auf internationaler Ebene ging es ganz friedlich um einmütige Teilung. Im Arte-Experiment »Tandem« fiktionalisierten Deutschland und Frankreich im Januar ihren Umgang mit Kernenergie, was rechts des Rheins (natürlich) zu einem atomkritischen Krimi führte und links (natürlicher) zu einer heiteren Provinzposse. So ging es weiter: Mitte Juli kehrte Cordula Stratmann nach langer Abstinenz auf den Bildschirm zurück und karikierte für die ZDF-Serie »Ellerbeck« fürsorglich Provinzpolitik, um ihre »Kuhflüsterin« Tage später rüde im Klischeebad der ARD zu ersäufen. Oder Oli Dittrich: Erst persifliert seine Kunstfigur Schorsch Aigner den schlingernden Franz Beckenbauer im WDR am Rande der Deckungsgleichheit (was die kritiklose Hommage des Autorenfilmers Thomas Schadt zum 70. des Kaisers noch peinlicher macht), dann verschleudert er sich als schwuler Friseur der NDR-Comedy »Jennifer«. Und kaum dass die ARD ihrem Vorabend mit »Sibel & Max« etwas Niveau abseits vom Schmunzelkrimi verpasst, fährt sie das Werbeumfeld mit »Unter Gaunern« kalauernd an die Wand.

Es war eben doch ein Jahr von Spaltung, Angst und Krise, was sich allein in sechs Serien zum Endzeitthema Zombies äußerte und nach fast jeder Tagesschau. Während von Paris über Athen, Ankara, Passau und zurück die ARD-Brennpunkte glühten, während Björn Höcke sein Talkshowmobiliar Schwarzrotgold dekorierte und Roger Köppels Sturmbannführermimik hart statt fair Viertes Reich spielte, während Hajo Seppelts Doping-Doku die Leichtathletik zur Hölle schickte und Daniel Harrichs Spielfilm »Meister des Todes« den Waffendealer Heckler & Koch, während das Literarische Quartett Streitkultur simulierte und Beckmann einen Sachfilmer, gab’s im Stahlgewitter der Realität aber auch Lichtpunkte.

Lustiges wie »Vorsicht vor Leuten« vom Stromberg-Duo Feldhusen/Husmann, Absurdes wie Axel Milberg als »Liebling des Himmels«, Famoses wie »Luis Trenker« alias Tobias Moretti, Außergewöhnliches wie die Anwaltssaga »Schuld«, Brillantes wie das Politbashing »Eichwald MdB«, ja selbst privates wie die Hospizserie »Club der Roten Bänder« (Vox) oder »Deutschland 83«, mit dem RTL positive Kritik, aber negative Quoten erntete. So zählt die – neben »Weissensee« – beste deutsche Serie des Jahres zu dessen Flops und reiht sich ein zwischen Raab & Jauch, Borg & Blochin, Naidoo & Winnetou, Verbotene Liebe & Two and a Half Men in die Liste der Verluste.

Auf der landen nun auch das Nachtgespenst Domian, der WG-Genosse Alsmann, die totverjüngte Stadlshow und ZDF-Kultur, womit Musik fern von Schlager und Pop aus dem Regelprogramm verschwindet. Das kriegt dafür einen Jugendkanal im Netz nebst Schulz & Böhmermann als Talkgespann auf ZDFneo, das zwar jeden Platzhirsch alt aussehen lassen, aber keine Konsequenzen haben dürfte, weshalb Illners Urlaubsvertretung Dunja Hayali auch 2016 allenfalls ersatzweise glänzen darf.

Da Streamingdienste wie Amazon und Netflix mit »Mr. Robot« und »Narcos« zugleich zeigen, was Innovation ist, wirkt das Fernsehen immer gestriger: RTL holt Winnetou aus den Jagdgründen und Kabel1 die Ludolfs; Steven Gätjen wird der neue Gottschalk und Anne Will die alte Jauch; im Februar setzt das Erste »Operation Zucker« fort, um die Missbrauchskrimiquote von 25 Prozent zu erfüllen, und Sat1 »Die Hebamme«, weil, äh … Der Bodensee kriegt bessere Ermittler plus Heike Makatsch als Event, auf das im Herbst der 1000. »Tatort« folgt, den Borowski/Lindholm gemeinsam betreten.

Zwischendrin steigern die Privaten das Quizzen auf »500 Questions« (RTL) und klauen lieber mies bei »Sherlock«, als »Einstein« gut zu schreiben (Sat1). Und wenn »Das Schweigen der Beate Zschäpe« im ZDF läuft, bevor der Prozess endet, zeigt sich: Bald wird das erste Dokudrama seinem Thema zuvorkommen. Spätestens dann wechselt LeFloid zur Tagesschau.

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