Die Würde der Toten

Zum Holocaust-Gedenktag: der Film »Son of Saul« von László Nemes

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Kann man über Auschwitz anders als dokumentarisch berichten, gar einen Spielfilm über die Gaskammern drehen? Der Regisseur László Nemes hat es versucht. Das Ergebnis hinterlässt einen eher zwiespältigen Eindruck.

Die Erinnerung an die Todesfabriken der Nazis mit Namen Auschwitz, Majdanek oder Treblinka löst sich mit der Zeit immer mehr ab von den wenigen, die diese Lager überlebten. Was wird aus dem Bild einer schrecklichen Geschichte, wenn die letzten Überlebenden nun nach und nach sterben? Der 1977 geborene ungarische Regisseur László Nemes, dessen Film »Son of Saul« die Claims Conference zum Holocaust-Gedenktag in Berlin präsentierte (Kinostart 10. März), sagt: »Der Holocaust ist im Lauf der Jahre eine Abstraktion geworden, etwas scheinbar Unreales.« Wie kann man dem Massenmord ein Gesicht geben?

Noch ist, was passierte, nicht ganz historisch geworden, noch gibt es Überlebende wie Esther Bejarano, die im Mädchenorchester von Auschwitz spielte. Die Gleise der Züge nach Auschwitz führten direkt zu den Gaskammern und Verbrennungsöfen. Dort stand dann auch das Orchester und spielte für diejenigen, die mit immer neuen Transporten ankamen. Wo Musik gespielt wird, kann es nicht ganz schlimm werden, diese Assoziation war von der SS gewollt, um die Menschen »geordnet« und ohne Widerstand massenhaft in die Gaskammern zu führen. Solche absurd-schrecklichen Erinnerungen wie die von Esther Bejarano schockieren gerade in der nüchternen, fast protokollartigen Weise ihrer Erzählung. Was Bejarano zu berichten hat, sprengt den Rahmen jeder Erzählung von innen her. Kann man über Auschwitz anders als dokumentierend berichten, gar einen Spielfilm über die Gaskammern drehen?

László Nemes hat es in seinem Debütfilm versucht - und das darf man mutig nennen. Die Berlinale jedoch lehnte den Auschwitz-Film über ein Häftlings-Sonderkommando im Herbst 1944 ab. Stattdessen lief er dann im Wettbewerb von Cannes, wo er mit dem Großen Preis ausgezeichnet wurde und nun erhielt er auch in Los Angeles den Golden Globe als bester fremdsprachiger Film und hat sogar Chancen auf einen Oscar. Sollte man also die Berlinale schelten, dass sie einen solchen Film ablehnte? Nein, ich denke nicht. Denn die Frage ist ja nicht, ob dies ein Film über ein wichtiges Thema ist, sondern die, ob es ein filmkünstlerisch herausragender Film geworden ist.

Doch »Son of Saul« bedient gängige Sehgewohnheiten, wirkt wie ein Thriller im Auschwitz-Kolorit. Darin verliert er gerade das, was am Holocaust am meisten bedrängt: die in ihrem Ausmaß tatsächlich abstrakte Dimension der Todesfabriken. Auschwitz ist der Inbegriff von kalter Menschenverachtung, in einer Dimension, die unsere an einzelnen Schicksalen gebildeten Reaktionsmuster übersteigt. Nemes dagegen versucht in »Son of Saul« das Individuelle in der massenhaften Vernichtung von Menschen fühlbar zu machen. Das ist ein verständlicher Impuls, aber er birgt die Gefahr, die »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) auf gängige Muster des Verstehens und Fühlens zu reduzieren. Aber Auschwitz ist nicht das Aufeinandertreffen von guten und bösen Menschen (dann wäre es nur ein Ausdruck von Dämonie), es ist das jeden Fortschritt pervertierende Prinzip effektiver Menschenvernichtung, der dunkle Schatten des Fortschritts selbst, das hier zu Anwendung gelangt. Eine perfekt organisierte Menschenvernichtungsmaschine - doch an deren Hebeln sitzen Menschen. Menschen müssen sie warten und »reinigen«. Opfer, die zu Mittätern gemacht werden, bevor auch sie ermordet werden. Ist es nicht notwendig, von Auschwitz auch aus dieser Perspektive zu erzählen?

In »Son of Saul« ist der Wille zur Parabel erkennbar. Saul (Géza Röhrig) gehört zu einem Sonderkommando, das die Transporte in die Gaskammern führt. Da sind Kapos mit Knüppeln, SS-Leute mit Gewehren und jene Häftlinge, die ein großes rotes Kreuz auf ihren Jacken tragen und die Neuankömmlinge »einweisen«. Gleich gibt es eine Suppe, dann werden die verschiedenen Berufsgruppen aufgerufen, aber als erstes steht Duschen auf dem Programm! Die Sachen bleiben hier, jeder merkt sich die Nummer seines Hakens. Kaum haben sich die Türen zu den als Duschen getarnten Gaskammern geschlossen, reißen die mit den roten Kreuzen auf den Jacken die Sachen von den Haken, sortieren Kleidung, sammeln Wertsachen zusammen. Das gehört zu ihrer »Arbeit« hier. Dann öffnen sich die Türen zur Gaskammer wieder, die Leichen werden herausgezogen, die Böden gewischt - und es kommen schon die nächsten Transporte.

Eines Tages, als die Leichen abtransportiert werden, atmet ein Junge noch. Ein SS-Arzt erstickt ihn und befiehlt seine Obduktion. Saul steht daneben und beschließt: Dies muss er verhindern, denn der Junge ist »sein« Sohn, er steht für alle Opfer seines jüdischen Volkes. Dieser Junge soll nicht aufgeschnitten werden, er muss ihn beerdigen, mit einem Rabbi an der Seite. Das ist sein Auftrag und bis er ihn erfüllt hat, wird er überleben. Inmitten des massenhaften Vernichtens, des Wegschaffens von Getöteten wie Müll, muss dieser eine Junge in Würde begraben werden. Denn mit der Bestattung der Toten begann einst alle menschliche Kultur - und wenn sie an so einem Un-Ort wie Auschwitz nicht gänzlich und für immer enden soll, dann muss diese Beerdigung stattfinden, ist sie für Saul jedes Opfer wert. »Du hast die Lebenden für die Toten verraten«, erwidert ein Mithäftling auf sein Ansinnen. Hier streiten die Perspektiven, es könnte nun auf grundsätzliche Weise wichtig werden. Doch wie das filmisch umsetzen?

An »Son of Saul« wurde die »innovative Kameraführung« gelobt. Tatsächlich bleibt die Handkamera im Gedränge immer dicht bei Saul. Und noch ein beachtlicher Effekt: Das Objektiv der Kamera von Mátyás Erdély scheint mehrfach wie festgefroren still zu stehen. Kein Zoom! Im Hintergrund wirkt das Geschehen dann undeutlich, die Personen bleiben in einer Art Nebel, erst wenn sie von selbst die richtige Entfernung erreicht haben, dicht vor der Kamera stehen, wird ihr Bild scharf. Doch diesen wenigen Mitteln, die sich filmisch auf die Ungeheuerlichkeit dessen einlassen, was hier gezeigt wird, stehen zu viele Momente gegenüber, wo das Geschehen aufdringlich konventionell umgesetzt erscheint. Am Ende könnte es zu jedem anderen x-beliebigen Thriller passen. Einiges ist ärgerlich, wie der ständig reproduzierte Hintergrundton. Es klingt dann rein illustrativ, damit auswechselbar: Schneller, vorwärts, los jetzt!

Keinen Moment Stille, kein Schrecken, der sich auf den Zuschauer überträgt. Saul versteckt den toten Jungen und sucht einen Rabbi. Diese Suche ist von Nemes als Reise durchs Lager inszeniert worden. SS-Leute an den Lagertoren werden mit Goldschmuck bestochen, Waffen und Sprengstoff für einen Aufstand zusammengetragen - und als eine Gruppe aus dem Sonderkommando tatsächlich ausbricht, schleppt Saul auf der Flucht immer noch den toten Jungen mit sich. Ein Hoffnungszeichen? Eher ein zwiespältiger Eindruck.

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