Winter in Minnesota

Jenna Blum schlägt in ihrem Debüt-Roman »Die uns lieben« die Brücke zwischen den USA und Weimar

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein eiskalter Winter 1996/97 im US-Staat Minnesota: Der Farmer Jack Schlemmer ist gestorben, und die Farmerfamilien der Umgebung haben sich pflichtgemäß zur Trauerfeier in der Lutherischen Kirche von New Heidelberg versammelt. Es gibt nur zwei Hinterbliebene Jacks: seine Ehefrau Anna, die er 1945 aus Deutschland mit hierher gebracht hatte, und seine Stieftochter, die Geschichtsprofessorin Trudy Swenson. Anna hat im Farmerhaus mit deutscher Gründlichkeit alles für den Leichenschmaus vorbereitet, aber - was schon zu vermuten war - es kommen keine Gäste. Die Deutsche ist für die Einheimischen immer eine Fremde gewesen und geblieben.

Aber auch für Trudy ist die Mutter in vielem fremd und rätselhaft, besonders was die frühe Zeit in Deutschland, genauer gesagt, in Weimar, betrifft. Darüber spricht Anna nie. Ja, sie hat im Laufe der Jahrzehnte um sich eine Mauer des Schweigens über ihre Vergangenheit errichtet. Einige Erinnerungsfetzen aus der frühen Kindheit, ein altes Familienfoto und nächtliche Alpträume lassen Trudy nicht zur Ruhe kommen. Als sich ihr die Möglichkeit bietet, an einem »Erinnerungsprojekt« mitzuarbeiten, nimmt sie an, deutsche Frauen sollen nach ihrer Vergangenheit im »Dritten Reich« befragt werden. So hofft sie, dem Schweigen der Mutter und Problemen von Erinnerung und Verdrängung auf die Spur zu kommen.

Die Autorin erzählt die Geschichte der beiden Frauen Anna und Trudy im Wechsel der Orte und Zeiten. Ein Sprung also ins Jahr 1940 nach Weimar! Die neunzehnjährige Anna ist schwanger und von ihrem Vater aus dem Haus gejagt, der Vater ihres Kindes, ein jüdischer Arzt, ins Lager Buchenwald verschleppt worden. Anna weiß nicht, wohin. Da erbarmt sich die Bäckersfrau Mathilde Staudt, sie nimmt sie in ihr Haus auf und bietet ihr und dem Kind Unterkunft und Schutz. Mathilde bekommt Extrarationen von Backzutaten, um das Offizierskasino in Buchenwald zu beliefern, sie arbeitet aber zugleich im Untergrund, schmuggelt Brot ins Lager und Nachrichten raus.

Das kann nicht lange gut gehen, die Sache fliegt auf, Mathilde wird erschossen. So bleibt Anna mit ihrer kleinen Tochter allein in der Bäckerei zurück und gerät in die Fänge eines Obersturmführers. Der gebraucht und missbraucht sie körperlich und seelisch - je nach Laune und brutalen oder sentimentalen Anwandlungen. Erst als die Amerikaner Weimar befreien, nimmt die Qual ein Ende. Auch wenn die Autorin ihren Roman 1997 mit etwas gewagten Wendungen doch noch einigermaßen gut enden lässt, ein Happy End gibt es nicht.

Der Roman fügt sehr vieles, fast zu viel, zusammen, was wir schon oft hörten, lasen oder sahen. Er stützt sich zwar auf authentische Berichte, ist aber doch ein Buch aus »zweiter Hand«, entsprungen den Vorstellungen der Autorin, die sich damit auf Glatteis begibt. Das Buch enthält viele geographische und praktische Ungenauigkeiten, mitunter Absurditäten. Zum Beispiel: Im Mai 1945, als es in der runtergekommenen Bäckerei schon längst weder Mehl noch Heizmaterial gibt, füllt Lieutenant Jack einfach einmal für Anna eine Wanne mit Badewasser. Und dass im fernen Minneapolis zufällig ein aus Weimar stammender Mann am Ende Licht in Annas Vergangenheit bringt, ist ziemlich absurd. Wie viele Ungenauigkeiten verträgt die Glaubwürdigkeit eines historischen Romans? Wir werden die Frage noch öfter stellen müssen, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt.

Wichtiger aber ist die im Buchtitel verankerte Frage: Können körperliche und seelische Wunden, wie sie Anna und Trudy zugefügt wurden, jemals verheilen? Die Antwort der Autorin lautet: Nein! Über das, was der Obersturmführer Anna angetan hat, heißt es einmal: Das schlimmste sei gewesen, »dass er ihr die Fähigkeit zu lieben genommen hat«. Diese psychologische Aussage geht über das Romangeschehen hinaus bis in die gewalttätige Gegenwart.

Jenna Blum: Die uns lieben. Roman. Aus dem Amerikanischen von Yasemin Dincer. Aufbau Verlag. 526 S., geb., 19,95 €.

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