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Im dritten Frühling

Martin Leidenfrost über acht zufällig zusammengewürfelte Bahnabteile - und die mustergültig westorientierte Ukraine

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich fahre im Schlafwagen durch die Ukraine. Es ist der dritte Frühling seit dem Sieg des Kiewer Maidans, die dritte Saison des »russischen Frühlings« für Separatisten im Donbass. Ich sollte aus acht zufällig zusammengewürfelten Gesellschaften in Bahnabteilen keine Statistik ableiten, aber dem geselligen Teil von weißem Speck und Wodka trauere ich bereits hinterher. Stattdessen Handyglotzer und Klingeltöne von der Art eines Industriealarms. Überhaupt ist die Ukraine so mustergültig westorientiert, dass Parlamentsabgeordnete nur noch auf Facebook zu erreichen sind und der Oberbefehlshaber seine Marschbefehle auf Facebook verkündet, gerne zuerst auf Englisch.

Tschop-Lemberg. Ein junger tätowierter Hipster mit Kamera-Equipment steigt zu. Mit dem kann’s interessant werden, denke ich. Dann jedoch lässt er auf seinen Stichwortgeber eine manische Rede los, erregt sich die ganzen Waldkarpaten lang an Sanitärbedarf, Verbindungsgriffen und Verfugungsschäumen. Ich blättere ukrainische Zeitungen durch: Weil das eine Frage der nationalen Sicherheit sei, will der Kulturminister russische Songs im Radio beschränken. Weil man die illegalen Bernsteinschürfer aus den Wäldern im Gebiet Schitomir vertreiben will, schickt man ihnen nun die Nationalgarde auf den Hals. Winniza-Kiew. In der Gegenrichtung passiert ein Zug mit frisch lackiertem Militärmaterial; Mannschaftswagen, kleine Panzer, Geschütze; Krieg auf dem technischen Niveau des Zweiten Weltkriegs.

Kiew. Bei der Abschlussgala des internationalen Festivals »Docu Days UA« wird eine Doku über Mariupol gezeigt, über die von ukrainischen Bataillons gehaltene Frontstadt am Südostrand der »Donezker Volksrepublik«. Schöner als in »Mariupolis« hat man die Kohle-Stahl-Hafen-Stadt noch nicht gesehen - die Morgensonne wandert sacht über frisches Frühlingsgras, und ukrainischsprachige Kämpfer laben sich im Kerzenlicht an einer zünftigen Brotzeit. Während der Aufführung dieses fast unpolitischen Kunstwerks stößt mir zum wiederholten Male auf, wie wenig Ukrainer im Alltag Zeichen von Zusammengehörigkeit zeigen, wie wenig sie sich als Gesellschaft betragen: Die den Saal verlassen, tun das nicht etwa rücksichtsvoll in Wellen, sondern dreißig oder vierzig Mal stören ein oder zwei Individuen die Erbauung der anderen. Hinterher schalmeit die Produzentin vom Frieden, der Film lasse dem Zuschauer die »freie Wahl zwischen Krieg und Frieden«. Gleich darauf, als sie die Reaktionen des Filmpublikums auf der Berlinale mit den ukrainischen vergleicht, sagt sie komischerweise: »Wir hier wissen alle, wofür wir kämpfen und wer gewinnen wird.« Ein kerniger Kerl in eng anliegenden Tarnfarben meldet sich zu Wort. Er stellt sich als »Veteran von Asow« vor, eines für seine Nazi-Symbolik und für seine westeuropäischen Nazi-Mitstreiter berüchtigten Bataillons. Das Tattoo an seinem Hals vereinigt den ukrainischen Dreizahn und das SS-Symbol zu einer neuen Kreation. Der Veteran lobt den Film.

Es folgt das Abschlussfest in einer schicken Location ohne ukrainische Drinks, der yogi-miniatürliche Superstar »Chili« singt. Zwischen den bebrillten Feministinnen des Menschenrechtsfestivals und Dutzenden Kulturgesandten westlicher Botschaften bewegt sich der Asow-Kämpfer als geehrter Gast. Er führt ein zierliches Fräulein mit Griff an ihre Wespentaille herum.

Kiew-Charkow. Vor grasbewachsenen Abraumhalden brennen Grasfeuer, so wie im letzten Frühling vor der Front. Charkow-Kiew, wieder zwei hysterische Bastler im Abteil. Der eine bindet sein über dem Ladegerät balancierendes Handy mit abgerissener Plastikfolie an, der andere schneidet aus einer PET-Flasche ein Behältnis zum Saufen. Kiew-Tschop, die kultivierte Managerin einer Anti-Drogen-NGO nennt mir die Drogen, mit denen die illegalen Bernsteinschürfer ihre Leistung steigern.

Auch im dritten Frühling meide ich noch gewisse Diskussionen. Dass ein Staat mit einem Mobilisierungspotenzial von 15 Millionen Männern nun schon zwei Jahre gegen wenige zehntausend russisch angeleitete Freischärler verliert, spricht man lieber nicht aus. Ich blättere weitere ukrainische Zeitungen durch: In Wolhynien rissen Nationalgardisten die Zelte der Bernsteinschürfer nieder und begannen danach selbst zu graben. Und eine Donezker Prostituierte bewies ukrainischen Patriotismus, indem sie mindestens zwanzig Freischärlern eine peinliche Geschlechtskrankheit anhängte. Wenn das die Moral nicht hochhält.

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