Für eine Solidargemeinschaft

Neustart der EU? Ein echter Politikwechsel müsste mit der europäischen Konkurrenzordnung brechen

  • Andreas Fisahn
  • Lesedauer: 5 Min.

Nach dem Brexit-Referendum waren die europäischen Eliten zunächst sprachlos, dann bockig: »Nun muss es aber auch schnell gehen«. Jetzt beginnt die Diskussion um Fehler, Wege und Abwege.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble geht bekannte und - aus seiner Sicht − bewährte Wege: (Nationale) Identität durch einen gemeinsamen Feind erzeugen, konsequent fordert er eine Militarisierung Europas. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier fordern einen »Neustart Europas«, der bei genauerer Betrachtung aussieht wie eine parallele Sackgasse. Beide beten das Lied von der offensiveren Investitionspolitik und von neuen Wachstumsimpulsen. Die EU solle eine echte Regierung bekommen und die europäische Außenpolitik vergemeinschaftet werden.

Auch die Linkspartei fordert einen Neustart Europas: für ein demokratisches und friedliches Europa − die konkreten Vorschläge betreffen aber keineswegs die Grundstrukturen der Union, sondern aktuelle Politikfelder: Flüchtlingspolitik und Stopp der Austeritätspolitik. Die Initiative Eurexit meint, »dass der Euro eine Fehlkonstruktion ist« und zum »Schlüsselproblem« geworden sei, so dass »über Alternativen zum Euro nachgedacht werden« müsse. Und Tom Strohschneider kommentierte die Diskussion im »nd« (4. Juli) als unausgereift: Es mangele an weiterführenden Vorschlägen und »wenigstens skizzenhaften Vorschlägen« wie eine demokratische EU aussehen könnte.

In der Tat lässt sich ein Neustart nur denken, wenn man skizziert, wo es hingehen soll und sich darüber klar wird, warum bisher der falsche Weg beschritten wurde: Die EU wurde als Konkurrenzordnung konstruiert. Die tragende Säule der Union, die vier Grundfreiheiten, wurden auf dem Weg zum einheitlichen Binnenmarkt zum Basis einer Markt- und politischen Ordnung, in der Wettbewerb die leitende Maxime ist. Apologetisch findet sich das in fast jeder offiziellen Erklärung. Eine Union von Staaten funktioniert als Konkurrenzordnung − welche die Konkurrenz zwischen den Staaten einschließt − aber nur solange wie jeder meint, er könne einen Vorteil aus dem Zusammenschluss ziehen. Das war das Prinzip der EU: Kompromissbildung durch Feilschen in einem System des »do ut des« - Ich gebe, damit du gibst.

Das Win-win-win Prinzip kann in der Krise nicht bestehen. Die Nachteile oder Kosten werden sichtbar und − das ist die Logik des utilitaristischen Prinzips der Konkurrenz − gegen den egoistischen Nutzen abgewogen. Da kann die Mehrheit der Engländer schon mal zu dem Ergebnis kommen, dass für sie der Nachteil durch die Konkurrenz mit »polnischen Fliesenlegern« größer ist als der Vorteil durch den europäischen Finanzplatz London. Da können die osteuropäischen Visegrad-Staaten schon mal zu dem Ergebnis kommen, dass die Kosten durch »muslimische« Zuwanderung größer sind als der Nutzen, den sie aus den Strukturfonds ziehen. Und da kann die griechische Regierung zu dem Ergebnis kommen, dass es vorteilhafter ist, die Kröten der Troika zu schlucken, als aus dem Euro auszutreten.

All das mag aufgeklärten, wohlmeinenden, linken Menschen nicht schmecken, liegt aber in der Logik des Vorteilsausgleichs im Konkurrenzsystem. Die Herstellung allseitiger national-egoistischer Vorteile wird umso schwieriger, je mehr Interessen beteiligt sind. Die Krise der EU ist auch eine Krise der Quantität.

Der Ausgleich nationaler Egoismen unterscheidet sich von der Berücksichtigung und Einbeziehung unterschiedlicher Interessen in der diskursiven Suche nach einem potenziellen Gemeinwohl. In der EU werden nationale Interessen gehandelt und nicht das Allgemeininteresse verhandelt. Das ist ein Problem der Demokratie in Europa, die zumindest als Verfahren zur Ergründung des Gemeinwohls zu denken ist. Ein Neustart müsste deshalb darauf angelegt sein, mit der europäischen Konkurrenzordnung zu brechen.

Was heißt das konkret? Die Menschenrechte haben Vorrang vor wirtschaftlichen »Grundfreiheiten«, die keinen Quasi-Verfassungsrang haben dürfen - der EuGH hat es fertig gebracht, selbst die Menschenwürde mit der Dienstleistungsfreiheit abzuwägen. Eine europäische Grundordnung dürfte nicht als Wirtschaftsordnung konstruiert werden und ein Wirtschaftsmodell quasi verfassungsrechtlich festschreiben. Das heißt, dass die entsprechenden Regeln der EU-Verträge − vom Subventionsverbot über den Vorrang der Preisstabilität bis zum Privatisierungsgebot für Infrastruktur − gestrichen werden müssten. Die Wirtschaftsordnung muss im demokratischen Prozess ausgehandelt werden.

Der EU würden schlichte Kompetenzen ohne inhaltliche Vorgaben zugewiesen. Dabei sind die Kompetenzen auf einen Kernbestand zu reduzieren. Zum Kern gehören die Angleichung der Steuern und der sozialen Sicherungssysteme und einheitliche Umweltvorschriften. An die Stelle der Kapitalverkehrsfreiheit bräuchte es einen Grundsatz der Sozialpflichtigkeit und Regulierung von Kapitaltransaktionen. Für eine europäische Demokratie braucht es eine europäische Öffentlichkeit, die durch ein europäisches System öffentlichen Fernsehens und europäischer Zeitungen (einschließlich Netzzeitungen) herzustellen ist. Es braucht europäische Parteien und ein einheitliches Wahlsystem, das den Grundsatz der Stimmengleichheit berücksichtigt. Erst dann könnte über eine demokratisch legitime Regierung gesprochen werden.

Das liefe auf eine Umkehrung der Verhältnisse, das heißt auf eine Solidargemeinschaft statt einer Konkurrenzordnung hinaus. Nur: Es sind keine Akteure mit entsprechender Durchsetzungskraft erkennbar, die einen Neustart in diesem Sinne propagieren, geschweige denn durchsetzen könnten. So müssen Zwischenschritte eingelegt werden. Der SPD-Europaabgeordnete Dietmar Köster meint, es müsse ein Investitions- und Sozialprogramm aufgelegt werden, das von der EZB finanziert wird. Und er weiß: Dafür ist eine Änderung der Verträge nötig.

Damit hat er einen Einstieg gefunden, um die Konkurrenzordnung insgesamt zu diskutieren. Und es wäre ein Punkt, dem weitere folgen müssen, um auch in Fragen der EU-Politik gemeinsame Perspektiven von Rosa und Rot auszuloten, ohne die Veränderungen eher eine bräunliche Färbung annehmen dürften.

Andreas Fisahn ist Professor für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht und Rechtstheorie an der Universität Bielefeld. Er ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des globalisierungskritischen Netzwerkes Attac. Er vertrat die Linksfraktion vor dem Bundesverfassungsgericht bei deren Klagen gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM und den Fiskalpakt.

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