Extreme Temperaturen

Im Kino: »Die Moskauer Prozesse« von Milo Rau beleuchtet Spannungen in der russischen Gesellschaft

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Titel des Films erinnert an sowjetische Schauprozesse, und er tut das mit voller Absicht. Milo Rau, Schweizer Theater-Regisseur und Filmemacher, stellte im März 2013 im Moskauer Sacharow-Zentrum an drei aufeinanderfolgenden Tagen die drei separaten Prozesse nach, die 2003, 2006 und 2012 mit Verurteilungen für die Veranstalter der umstrittenen Kunstausstellungen »Vorsicht! Religion« und »Verbotene Kunst« sowie zweier Mitglieder der Aktivistinnengruppe Pussy Riot für ihr kirchliches »Punk-Gebet« endeten. Während die Prozesse nur äußerlich nach rechtsstaatlichen Standards abliefen und damit - laut Rau - das Ende des demokratischen Russland bedeuteten, ist die Neuauflage darauf angelegt, das tatsächliche Rechtsempfinden der russischen Bevölkerung zu testen - und indirekt vielleicht den Beweis für die politische Motivation der realen Prozess-Urteile zu erbringen.

Nicht mit Schauspielern ließ Rau die Prozesse neu aufrollen, sondern mit den tatsächlich Beteiligten - nach geltendem russischem Recht. Zwei Weltanschauungen, stehen sich unversöhnlich gegenüber: auf der einen Seite die Vertreter einer offenen Gesellschaft, Demokratie, Kunstfreiheit und individueller Rechtssicherheit. Auf der anderen Seite ein Verständnis von Glauben, das Gewalt gegen Andersdenkende einschließt. Und ein Staatsverständnis, das das Wohlergehen des Staates grundsätzlich vor das Wohlergehen ganzer Gruppen seiner Bürger stellt. Und dabei auf willfährige Ausführungsgehilfen, gelenkte Gerichtsverfahren und eine engmaschige Verquickung von Staat und Kirche bauen kann.

Der rechte Journalist, der hier die Anklage vertritt, verdammt die Aktionen von Pussy Riot als Ausdruck eines gotteslästerlichen westlichen Liberalismus in Grund und Boden (und greift zu altgedienten Verleumdungen wie der von der auswärtigen Unterwanderung), er möchte Kirche und Staat in Russland als unteilbare Einheit verstanden wissen und brandmarkt die verurteilte Aktion als Ausdruck einer abzuwehrenden Massenkultur - was er ausgerechnet an den Strumpfmasken der Aktivistinnen fest macht. Derweil hoffen andere auf eine inoffizielle Revision des Urteils. Denn wenn selbst dieser nachgestellte Prozess nicht zu einem rechtsstaatlichen Ergebnis führe, dann sei wirklich etwas falsch in den Köpfen der Russen, befindet die Verteidigerin der Kunstprozesse.

Dass der Russe als solcher überhaupt zum Dialog in der Lage ist, wird allerdings auch gleich bezweifelt. Ein gesellschaftlicher Dialog sei nicht zu erkennen, gibt ein Künstler zu Protokoll. Jede öffentliche Stellungnahme ist so extrem wie die Temperaturen des Landes: keine goldene Mitte, sondern ein Schwanken zwischen extremer Hitze oder Kälte. Ein Vertreter der liberalen Seite hofft auf ein ausgewogeneres Verfahren als vor den realen Gerichten, denn diese neue Veranstaltung hier sei ja unabhängig. Publik gemacht wurde sie nicht, um nicht die Staatsvertreter auf den Plan zu rufen. Voll wurde der Saal trotzdem - und Staatsvertreter und rechte Milizen tauchten schließlich auch noch auf. Auch ein Aktivist der Rechten hofft, dass die nachgestellten Prozesse die Wahrheit an den Tag bringen mögen. Befragt, was das denn sei, »die Wahrheit«, lautet seine Antwort kurz und einsilbig: »Gott.«

Ein Experte der Anklage, der als »orthodoxer Aktivist« eingeführt wird, nutzt die Gelegenheit, dem Westen ein paar grundsätzliche Wahrheiten über den russischen Gläubigen als solchen nahezubringen, denn »die Europäer verstehen ja nicht, was der Russe denkt«. Ein orthodoxer Priester lobt Russland kollektiv und ohne gebotene Unterscheidungen als eine Gesellschaft, die konservativen, traditionalistischen, patriarchalen Gedanken verpflichtet sei, und macht deshalb als Verteidiger der russischen Identität und der Symbole des Moskauer Patriarchats vor blasphemischen Angriffen bei diesen Prozessen mit.

Was ganz im Sinne der Anklage ist, die vor einem »liberal-faschistischen« Staatsverständnis warnt (zu dessen Vorhut die Pussy Riot-Aktivistinnen prompt erklärt werden), das sich in Russland einzuschleichen versuche und sich gegen die Menschlichkeit richte - und gegen Herz und Seele der Russischen Föderation. Ein kirchenkritischer Ex-Orthodoxer und heutiger Freikirchler hält dagegen, das Moskauer Patriarchat habe sich mittlerweile in eine orthodoxe Kampfsport-Vereinigung verwandelt (siehe die Zerstörung der Ausstellungs-Exponate), und werde nicht eher haltmachen, bis die Klerikalisierung der russischen Gesellschaft komplett sei.

Zwar kommen vor einer siebenköpfigen Jury, die als Querschnitt der Gesellschaft ausgewählt wurde, die sich mit den Beweisfotos zu Ausstellungen und Aktion aber nur sehr kursorisch beschäftigt, auch differenziertere Ansätze zu Gehör. Da ist dann von der instinktiven Abwehrreaktion des Gläubigen die Rede, wenn ein Angriff auf Kirche und Glauben in der Luft liege (wozu hier bereits der Einsatz einer Gitarre im Kirchenraum gezählt wird) - schließlich habe es die in den Zwanzigern ja tatsächlich gegeben. Und auch davon, dass Ausstellungen nicht zum Zweck der Beleidigung konzipiert sein sollten und einige der Exponate über ein gesellschaftlich akzeptables Maß an Provokation hinausschossen.

Das Urteil lässt vielleicht sogar hoffen - etliche der vor Gericht vehement vertretenen Meinungen aber lassen erst einmal schaudern.

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