Besser leben ohne Nase

Ambrose Bierce fügt selbsterlebten »Luftspiegelungen« noch allerlei »schräge Sichten« hinzu

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Erdfarben mit leuchtenden Akzenten - der Buchumschlag, von keinem Geringeren entworfen als Horst Hussel, fällt zuerst ins Auge. Die Editionen der »Friedenauer Presse« wollen ja auch etwas Besonderes sein. Katharina Wagenbach-Wolff, die inzwischen 84-jährige Verlegerin, hatte zudem schon immer eine gute Hand für Entdeckungen. Von vielen berühmten Autoren hat sie bisher Unveröffentlichtes übersetzen, im Bleisatz drucken lassen und in fadengehefteten Broschuren herausgebracht.

Nun von dem Amerikaner Ambrose Bierce, eben dem, der durch die Erzählung »Ein Vorfall an der Owl-Creek-Brücke« und die satirische Aphorismen-Sammlung »Des Teufels Wörterbuch« bekannt geworden ist.

Man müsste wissen, was für ein scharfzüngiger Kerl er war, dennoch wird man überrascht. So heutig ist die Problematik, die den vier Geschichten zugrunde liegt. »Da lange schon die Überlandeisenbahnen viele Tausende Personen über die Hochebenen des Kontinents gebracht haben« - so hebt sein Text »Die Luftspiegelung« von 1887 an. Bierce war schon auf seine Weise ein Zeitgenosse technologischer Neuerungen, die faszinieren, aber auch ängstigen konnten. Der Mensch, in immer schnellerer Abfolge mit neuen Erfahrungen konfrontiert, er fragt sich, was sich wohl noch alles verändern wird, ob er damit Schritt hält, ob er alles gutheißen kann. Sich mitreißen lassen oder Widerstand leisten? Ambrose Bierce wird es mal so, mal so gegangen sein, aber das wichtigste blieb ihm wohl seine Autonomie.

Seine Freiheit fand er, wie man Dank des Übersetzers Rainer G. Schmidt erleben kann, in seinem ihm eigenen Stil, mit Gedanken und mit Sprache zu jonglieren. Die vier Geschichten geben sich als populärwissenschaftliche Abhandlungen mit logischer Argumentation. Der Autor macht ein ernstes Gesicht und verkneift sich ein Lachen. Allein schon mit seinen Themen ist er neben der Spur und spekuliert zugleich auf die Neugier des Publikums, das sich gern mit allerlei Merkwürdigkeiten unterhalten lässt. Nur dass Bierce eben so tut, als ob es nicht merkwürdig sei.

Luftspiegelungen? Hat er wohl tatsächlich erlebt, als er 1866 im amerikanischen Bürgerkrieg als Landvermesser in den Trockengebieten östlich der Rocky Mountains unterwegs war. Mal gewahrte er mit Entzücken eine große Wasserfläche, mal mit Erschrecken riesige Ungeheuer am Horizont. Geistererscheinungen? Da ist ihm Skepsis zuzutrauen oder doch nicht so ganz. Jedenfalls gefällt er sich im Fabulieren, ob und wie Gespenster bekleidet sind.

Die »Elektroplattierung von Toten«: In Rainer G. Schmidts Anmerkungen zum Text erfährt man, was man nicht ahnte. 1857 ist von zwei Franzosen tatsächlich ein solches Patent angemeldet worden, tote Körper mit Metall zu überziehen. Aber was Ambrose Bierce daraus macht! Nämlich sich und anderen ein Vergnügen, mit dem Makabren zu spielen, es auszuschmücken mit immer neuen Einfällen. »Bedeutsame Menschen« würden keine Bildhauer mehr benötigen, wenn ihre metallisierten Leichen die öffentlichen Plätze schmücken. Indes, wenn ihr Beispiel Schule macht, wie sähen dann die Städte aus?

Gedankenkapriolen, denen Rainer G. Schmidt mit spürbarem Vergnügen folgt. Geradlinige Denkweisen als Herausforderung zum literarischen Hakenschlagen. Wie wird der Mensch der Zukunft sein? Zergrübelt euch nur. Ganz einfach: Er wird keine Nase haben und er wird auch - nicht erschrecken - ohne Haare sein. Denn: »Ein weiterer deutscher Arzt (namens Müller - der deutsche Arzt der nicht Müller heißt, ist gerade noch einmal davongekommen) macht auf die zunehmende Verbreitung der Kahlheit aufmerksam und erklärt sie als erblich.« Für Bierce aber ist »die Wahrheit ... sonnenklar. Männer werden kahl, weil sie andauernd ihr Haar schneiden« und dadurch »die Kapillarenergie« aufbrauchen.

Absurde Wissenschaft, schwarzer Humor. Manche Zeitgenossen sahen in dem Sarkastiker Bierce einen Misanthropen. Dabei soll er ein liebenswürdiger, hilfsbereiter Mann gewesen sein. Geboren 1842 in einer Farmersfamilie, als zehntes von dreizehn Kindern, lief er mit fünfzehn von zu Hause fort. Als sein Sterbejahr ist 1914 angegeben, in Mexiko verlor sich seine Spur.

Ambrose Bierce: Die Luftspiegelung und weitere schräge Sichten. Aus dem Amerikanischen von Rainer G. Schmidt. Friedenauer Presse. 32 S., br., 9,50 €.

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