Zeugen Jehovas

Kalenderblatt

  • Hans Canjé
  • Lesedauer: 2 Min.

Vielleicht hätte August Dickmann, Zeuge Jehovas, den Zweiten Weltkrieg überlebt. Er hätte nur den Wehrpass unterschreiben müssen, der ihm als Angehöriger dieser verfolgten Religionsgemeinschaft in das KZ Sachsenhausen nachgesandt worden ist. Der 29-Jährige, der nach dem Besuch der Volksschule in einem Sägewerk arbeitete, mit seinen Brüdern Heinrich und Fritz auch nach dem Machtantritt der Nazis missionarisch tätig blieb und 1936 von der Gestapo verhaftet worden ist, hätte sein Todesurteil abwenden können, wenn er sich zum Wehrdienst bereit erklärt hätte.

Die Zeugen Jehovas, auch Ernste Bibelforscher genannt, verweigerten jedoch Eidesleistungen, Wehrdienst und Hitlergruß konsequent. Sie waren 1933 verboten worden und sahen sich in den kommenden Jahren zunehmender Repressalien ausgesetzt. Nach dem Überfall auf Polen wurde das bis dahin geltende Kriegssonderstrafrecht verschärft. Seit dem 3. September 1939 galt ein geheimer Runderlass des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, an alle Staatspolizeistellen. Dieser ordnete für Wehrdienstverweigerung, Zersetzungsäußerungen und andere Kriegsdelikte nicht nur den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, sondern auch verfahrenslose Hinrichtungen an. Nach diesem Runderlass konnten Zeugen Jehovas sowohl im KZ als auch in Freiheit wegen Wehrdienstverweigerung »rechtmäßig« exekutiert werden - Himmlers Triumph über die Gerichte.

Bei Dickmann konnte die SS auch durch brutale Prügel und Einzelhaft keine Gesinnungsänderung erreichen. So wurde die von Himmler verfügte »Sonderbehandlung« angeordnet: die »verfahrenslose« Exekution. Das sollte ein demonstrativer Warn- und Abschreckungsakt werden. Am 15. September 1939 hatte die gesamte Lagerbelegschaft, zu dieser Zeit etwa 8000 Häftlinge, und das Wachpersonal auf dem Appellplatz anzutreten. Über die Lautsprecheranlage des »modernsten, schönsten und größten Lagers dieser Art in Deutschland« (Lagerarchitekt Bernhard Kuiper) verkündete der Lagerkommandant Hermann Baranowski das Todesurteil. Vor aller Augen erfolgte vor 75 Jahren die erste Hinrichtung eines deutschen Wehrdienstverweigerers. Unter den angetretenen Häftlingen war auch Bruder Heinrich Dickmann.

Zahlreiche weitere Hinrichtungen wegen Wehr- und Kriegsdienstverweigerung folgten; später nicht mehr auf dem Appellplatz, sondern im Erschießungsgraben der »Station Z«. Die von der Militärjustiz erwartete abschreckende Wirkung trat nicht ein. Im ersten Jahr des Krieges wurden gegen 152 Zeugen Jehovas Verfahren wegen »Zersetzung der Wehrkraft« durchgeführt, in 112 Fällen ergingen Todesurteile. Hitler soll 1942 Richter, die darob verunsichert waren, darauf verwiesen haben, dass auch in der Tierwelt asoziale Elemente ausgemerzt würden.

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