»Wir bitten Sie um Besonnenheit«

Roland Wötzel über den Aufruf der Leipziger Sechs am 9. Oktober 1989 in der Messemetropole

  • Lesedauer: 8 Min.

Herr Wötzel, Leipzig war vor 25 Jahren ein Brennpunkt dramatischen Geschehens. Damit es nicht zu gewalttätigen Ausschreitungen komme, haben sich die sogenannten Leipziger Sechs zusammengetan. Wer hat sie zusammengetrommelt? Und wer hatte den Hut auf?
Den »Hut« hatte bei der Diskussion zu unserem Aufruf niemand auf. Wir haben alle auf Augenhöhe miteinander um den Text gerungen. Nachdem Kurt Masur am 9. Oktober 1989 kurz nach Mittag in der Bezirksleitung angerufen und seine Befürchtungen geäußert hatte, dass es bei der bevorstehenden Demonstration nicht friedlich bleibe, entschieden Kurt Meyer und ich, am Nachmittag den Gewandhauskapellmeister aufzusuchen. Wir wollten mit ihm Möglichkeiten erörtern, die zu einem friedlichen Ablauf der Proteste beitragen könnten.

Kurt Meyer war Kultursekretär in der SED-Bezirksleitung Leipzig ...
Ja, und uns schloss sich dann auch Jochen Pommert, Sekretär für Agitation und Propaganda in der SED-Bezirksleitung, an.

Drei SED-Funktionäre. Zu den Leipziger Sechs gehörten neben Masur auch noch ein Theologe und ein Kabarettist.
Peter Zimmermann war Theologiedozent an der Karl-Marx-Universität. Er gab eine ihm am 7. Oktober verliehene Auszeichnung an der Eingangspforte der Bezirksleitung mit der Bemerkung zurück, dass ihn die jüngsten Ereignisse dazu veranlassen. Da die Universität zu meinem Verantwortungsbereich gehörte, forderte mich der amtierende 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Helmut Hackenberg, auf, umgehend mit Zimmermann, den ich bis dato nicht kannte, zu sprechen. Ich führte mit ihm am 9. Oktober mehrere Telefonate und bat ihn dann, an der Aussprache bei Masur teilzunehmen.

Kabarettist Bernd-Lutz Lange hatte ich schon Wochen vor dem 9. Oktober gebeten, mir behilflich zu sein, um in einen Dialog mit der Opposition zu treten. Eine von ihm angeregte Diskussionsveranstaltung mit dem »Neuen Forum« scheiterte, nachdem die Parteiführung des Bezirks davon »Wind bekommen« hatte. Herr Lange sagte mir aber trotzdem Unterstützung für eine weitere Aktion zu, vorausgesetzt, er könne sich mit deren Inhalt und Form identifizieren. Ich plante, beim Abendgottesdienst am 9. Oktober in der Nikolaikirche der Opposition den Dialog anzubieten. Auch Lange bat ich, am Gespräch bei Masur teilzunehmen.

Dessen Ergebnis war ein Aufruf, der an jenem Tag kurz vor Schluss des Friedensgebetes in der Nikolaikirche, noch vor dem Segen des Bischofs, verlesen wurde.
Und auch über den Leipziger Stadtfunk ab 18 Uhr gesendet wurde.

In dem von allen Sechs namentlich gekennzeichneten Aufruf hieß es ...
»Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.«

Hatten Sie reale Angst vor einer gewalttätigen Auseinandersetzung? In der »Leipziger Volkszeitung« war sieben Tage zuvor ein Leserbrief eines Kampfgruppenkommandeurs abgedruckt worden, der bedrohlich wirkte. Ein realer Brief oder Fantasieprodukt eines Parteijournalisten?
Den Kampftruppenkommandeur gab es tatsächlich. Ich habe ihn Wochen später kennengelernt und dabei erfahren, dass die Initiative zu diesem Brief nicht von ihm ausging. Dieser Brief am 2. Oktober führte auch zwischen uns Sechs während der Formulierung des Aufrufs zu erheblichem Streit, der fast zum Scheitern der ganzen Aktion geführt hätte.

Haben Sie als Mitglied der SED-Bezirksleitung Verantwortliche der Staatssicherheit, der NVA oder Kampfgruppen zu kontaktieren versucht?
Ich habe weder am 9. Oktober noch an den Tagen davor Chefs bewaffneter Organe kontaktiert. Dafür gab es triftige Gründe.

Welche?
Mein Gedanke war: Suche ich das Gespräch und es endet negativ, ist das von mir beabsichtigte Vorhaben nicht mehr durchführbar. Sollte das Gespräch positiv enden, wäre der Kreis der Mitwisser über mein Vorhaben ohne ersichtlichen Nutzen zu groß geworden.

Erich Loest hat ein Stück geschrieben, das in Leipzig aufgeführt und vom Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen sowie dem Evangelischen Schulzentrum unterstützt wird. In diesem Stück behauptet Loest, der 1. Sekretär der Bezirksleitung Leipzig - zu dem ich erst am 5. November gewählt wurde - hätte sich mit dem Bezirkschef der Staatssicherheit getroffen und abgesprochen, dass die Staatssicherheit geopfert wird, um die SED und ihr Vermögen zu retten. Ich habe nie ein Gespräch mit derartigem Inhalt geführt. In einem Streitgespräch, das in der LVZ vor drei Jahren veröffentlicht wurde, hab ich Loest zwei Mal gesagt, dass seine Darstellung den Tatsachen widerspricht, dass er lügt. Er hatte dem nichts entgegenzusetzen. Das Theaterstück jedoch kolportiert diese Lüge. Sie wird genutzt, um vor allem jungen Zuschauern die historischen Ereignisse von 1989 wahrheitswidrig zu erzählen. Nicht ohne Absicht.

Es sollen am 9. Oktober 8000 Polizisten, Kampftruppenmitglieder und NVA-Soldaten in Leipzig bereit gestanden haben. Was hat deren Rückzug bewirkt? Eine Order aus Berlin?
Den Rückzug der Sicherheitskräfte am Abend des 9. Oktober hat zweifellos die mächtige Demonstration der Leipziger Bevölkerung auf dem Ring bewirkt. Ihre Frage betrifft jedoch ein weiteres für den Ausgang der Demonstration am 9. Oktober und die Protestveranstaltungen wichtiges Problem. Nach unserem Aufruf war klar, dass die SED im Bezirk und ihr amtierender 1. Sekretär, also Hackenberg, nach den damals geltenden Strukturen der »Oberkommandierende« für den Bezirk, zu einer Entscheidung gezwungen sind. Das war gewollt. Darin liegt die eigentliche Bedeutung des Aufrufs für den friedlichen Verlauf der Ereignisse.

Wurde Ihnen Verstoß gegen die Parteidisziplin vorgeworfen, weil sie eigenmächtig vorpreschten?
Es gab eine kurze, heftige Auseinandersetzung nach unserer Rückkehr von Masur in die Bezirksleitung, im Büro von Hackenberg. Dann stellte er uns drei Mitunterzeichnern die Frage »Wie soll es jetzt weitergehen?« Meine Antwort konnte nur lauten: »Zurückziehen! Die bewaffneten Kräfte müssen zurückgezogen werden. Das musst Du anordnen.« Meyer und Pommert unterstützten mich nachdrücklich. Inzwischen hatte, ausgehend von der Nikolaikirche, die Demonstration schon den Ring erreicht. Hackenberg wollte mit Erich Honecker telefonieren. Am Apparat in Berlin war Egon Krenz. Hackenberg trug ihm die Lage vor. Krenz versprach, zurückzurufen. Als nach einiger Zeit kein Anruf kam und der anwachsende Demonstrationszug sich in Richtung Hauptbahnhof, also auf den Punkt zubewegte, wo die Demonstranten nach unserer Kenntnis aufgehalten werden sollten, rief Hackenberg die Leiter aller bewaffneten Organe im Bezirk Leipzig an und forderte sie auf, sich zurückzuziehen. Ich bin mir absolut sicher, dass ohne diese Aufforderung der 9. Oktober 1989 in Leipzig nicht gewaltfrei geendet hätte. Hackenberg hat, ohne eine Entscheidung aus Berlin abzuwarten, gehandelt. Das rechne ich ihm hoch an.

War letztlich der 9. Oktober in Leipzig der ausschlaggebende Anstoß für die Entmachtung Honeckers?
Der 9. Oktober in Leipzig und auch die vorhergehenden Demonstrationen waren zweifellos wichtige Ereignisse, die dafür einen Anstoß gaben. Die Gründe für den Sturz Honeckers waren allerdings komplexer.

Was meinen Sie?
Am 5. oder 6. Oktober hatte ich ein ausführliches Gespräch mit Walter Friedrich, dem Chef des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig. Er informierte mich über seine Absicht, in einem ausführlichen Brief Krenz über die wahre Situation in der DDR zu informieren und ihm ungeschminkt, auch auf Grund seiner Forschungen, über die politischen Folgen ins Bild zu setzen. Wir sprachen über die Hauptpunkte des Briefes und waren uns dahingehend einig, dass er versuchen sollte, Krenz kurzfristig um ein vertrauliches Gespräch zu bitten und ihm dabei diesen Brief persönlich zu übergeben.

Überraschenderweise lud Krenz ihn zum Gespräch für den folgenden Tag ein, wie mir Friedrich am 8. Oktober mitteilte. Friedrich übergab den Brief; er ist abgedruckt in Ekkehard Kuhns »Der Tag der Entscheidung«. Krenz las den Brief und offenbarte sodann Friedrich, den er seit Jahrzehnten kannte, dass er mit einigen Mitgliedern des Politbüros die Absetzung Honeckers vorbereite, wofür es zu diesem Zeitpunkt in jenem Gremium allerdings noch keine Mehrheit gebe. Das erfuhr ich unter vier Augen von Friedrich. Als er mich nicht in der Bezirksleitung antraf, fuhr er zu Masur, wo wir gerade am Aufruf feilten. Die Haushälterin informierte mich, dass mich draußen jemand dringend zu sprechen wünschte.

Haben Sie die Mitverfasser des Aufrufs darüber informiert?
Nein, um die gemeinsame Formulierung des Aufrufes nicht zu gefährden, habe ich über die soeben empfangene Information im Kreis der Sechs geschwiegen. Auch meine Sekretariatskollegen Meyer und Pommert informierte ich erst später.

Die Demonstranten in Leipzig bekundeten »Wir bleiben hier!« Wie wirkte sich die Massenflucht auf die Leipziger Infrastruktur aus?
Sie war deutlich spürbar im Gesundheits- und Verkehrswesen und im Handel. Nicht selten konnten die dadurch entstandenen Engpässe und Versorgungslücken nur durch immense Anstrengungen der Hiergebliebenen, durch Überstunden, Sonderschichten und Einsätze auch branchenfremden Personals halbwegs behoben werden. Mir sind aber keine Schließungen von Betrieben, auch nicht kleinerer, bekannt. Einzelne Struktureinheiten in Betrieben und Einrichtungen mussten allerdings geschlossen werden bzw. waren nicht mehr arbeitsfähig, wenn ihr Funktionieren von wenigen Spezialisten abhing, die das Land verlassen hatten. Derartige Ausfälle forcierten die Missstimmung in der Bevölkerung.

Haben auch einige aus Ihrem Verwandten- oder Freundeskreis der DDR den Rücken gekehrt?
Eine meiner Nichten hatte im Urlaub ihren heutigen Mann, einen Musiklehrer aus Bayern, kennengelernt. Er war bereit, als Musiklehrer nach Sachsen zu kommen. Die zuständigen Organe beim Kreis und beim Bezirk wollten ihm jedoch keine Anstellung im Bezirk Karl-Marx-Stadt garantieren. Die Folge: Statt zwei gut ausgebildete junge Menschen für die Republik zu gewinnen, haben wir eine fast fertig ausgebildete Lehrerin verloren.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen lädt heute, 8. Oktober, 18 bis 20 Uhr, zur Debatte mit Vertretern der Leipziger Sechs in die Alte Nikolaischule.

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