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Es will nicht gelingen

Nichts beschäftigt die Pädagogik derzeit so wie die Inklusion. Doch der überhastet begonnene Versuch einer Umwälzung scheint ins Stocken geraten zu sein. Von Guido Sprügel

  • Guido Sprügel
  • Lesedauer: 4 Min.

Nun hat es endlich mal ein Politiker offen und ehrlich ausgesprochen - zumindest in Hamburg wird es nicht mehr Geld für die Inklusion behinderter Kinder in die allgemeinen Schulen geben. So hat es zumindest Ties Rabe (SPD) auf einer Veranstaltung der GEW Ende September ausgesprochen. Er erteilte damit den Gewerkschaftsforderungen nach einer Einstellung von zusätzlichen 550 Sonderpädagogen eine klare Absage. Diese Forderungen seien nicht finanzierbar - auch nach einer eventuell erfolgreichen Wiederwahl der SPD im kommenden Jahr nicht.

Man muss dem Senator zugutehalten, dass er überhaupt erst keine leeren Versprechungen im beginnenden Wahlkampf macht, sondern direkt Tacheles redet. Anja Bensinger-Stolze begründete die Forderung der GEW nach mehr Ressourcen: »Die Ausstattung der Inklusion in Hamburg ist völlig unzureichend. Darunter leiden die Arbeitsbedingungen der PädagogInnen und natürlich auch die Qualität von Unterricht. Eine solche Umsetzung der Inklusion als Sparmodell lehnt die GEW ab!« Doch kurzfristig etwas an den Rahmenbedingungen ändern kann die Gewerkschaft nicht. Und so wird die Inklusion weiter unter sehr widrigen Bedingungen umgesetzt. In Hamburg sprießen an den weiterführenden Stadtteilschulen die sogenannten temporären Lerngruppen nur so aus dem Boden.

Egal, ob Anker-, Brücken-, oder Laborklassen - sie alle eint der trennende Aspekt. Streng genommen werden durch diese Sonderklassen die Sonderschulen durch die Hintertür wieder eingeführt. Verwunderlich ist diese Entwicklung nicht, denn die Lehrer arbeiten nur wenige Stunden in Doppelbesetzung mit ausgebildeten Sonderpädagogen. Die meiste Zeit des Unterrichts sind sie mit den Klassen allein und müssen dann auch noch den nach den PISA-Studien gestiegenen Bildungsansprüchen Genüge tun.

Etwas Entlastung erfahren die Pädagogen vielerorts durch Eingliederungshelfer oder Schulbegleiter. In Hamburg ist die Anzahl dieser Mitarbeiter in den letzten Jahren um das acht- bis neunfache gestiegen. Und auch in anderen Bundesländern wird verstärkt auf diese Maßnahme zurückgegriffen. »Ich betreue einen sehr stark verhaltensauffälligen Grundschüler an vier Tagen in der Woche. Oft weiß ich jedoch nicht, was ich mit ihm machen soll, da ich für diese Tätigkeit nicht ausgebildet bin«, beschreibt Sabine Gilsch ihre Probleme. Die 50-jährige arbeitet für neun Euro Stundenlohn an einer Lübecker Grundschule. Wenn es mit dem von ihr betreuten Kind im Unterricht gar nicht mehr funktioniert, geht sie mit ihm vor die Tür - und muss den Rest der Klasse damit sich selbst überlassen.

Der Fall steht exemplarisch für viele, nicht nur in Schleswig-Holstein. Und auch an dieser Stelle zeigt sich, dass viele Bundesländer die Inklusion zum Dumpingpreis umsetzen möchten. Sie nehmen dabei sogar die Etablierung eines Niedriglohnsektors im Bildungsbereich billigend in Kauf, bevor sie Erzieher oder Sonderpädagogen einstellen. In Berlin werden viele Schüler mit schweren Verhaltensauffälligkeiten sogar einfach in andere Bundesländer verbracht. »Da findet man auf einmal Berliner Schüler in Maßnahmen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern oder sogar in Polen«, warnt Bernd Ahrbeck von der Humboldt Universität. Er lehrt Verhaltensgestörtenpädagogik und kritisiert die derzeit umgesetzte Inklusion sehr scharf. Es sei noch völlig unklar, wie man sich eine »inklusive Gesellschaft« vorzustellen habe. Zumal die gesellschaftliche Realität eindeutig auf Wettbewerb, Selbstoptimierung und Erfolg gemünzt sei.

Die Bundesländer selbst suchen alle ihren eigenen Weg im Bereich der schulischen Inklusion: während Bremen möglichst schnell alle Sondereinrichtungen auflösen will, gehen Bayern und Baden-Württemberg sehr langsam vor. Ahrbeck plädiert ebenfalls für einen behutsamen Ausbau des gemeinsamen Lernens. In Fachkreisen wird er deshalb stellenweise ein »Ewiggestriger« und »Konservativer« bezeichnet. In der pädagogischen Wissenschaft ist der Streit um die Inklusion nämlich ebenfalls voll entbrannt. Während Hochschullehrer wie Andreas Hinz in Halle und Hans Wocken in Hamburg jedwede Sonderschule als »menschenrechtswidrige Entwürdigung« begreifen und die Beschreibung eines Förderbedarfs schon als ähnlich diskriminierend empfinden wie eine »sexistische und rassistische Sprache«, warnen Wissenschaftler wie Ahrbeck vor einer Überforderung aller Beteiligten und stellen gleichzeitig die »Nivellierung von Behinderung« grundsätzlich in Frage. Vereinfacht formuliert: Allein durch guten Willen verschwindet eine Behinderung nicht. Und Kinder mit Behinderungen brauchen zusätzliche Unterstützung, damit gemeinsames Lernen funktionieren kann.

Wohin es führt, wenn sich die Bildungspolitik in Deutschland nicht darauf besinnt, der Inklusion Zeit und Geld zu geben, zeigt der Brandbrief der Schule Am Heidberg in Langenhorn. Eltern und Lehrer warnen darin vor einer massiven Überlastung. »Aufgrund der hohen Zahl verhaltensauffälliger Schüler ist ein halbwegs normaler Unterrichtsalltag in vielen Klassen nur möglich, weil unsere engagierten Kollegen über ihre Belastungsgrenzen hinaus (...) für das Gelingen der Inklusion (...) kämpfen«, heißt es in dem Brief. Auch hier kam nur die lapidare Antwort der Schulbehörde, die Stadtteilschulen seien massiv bessergestellt.

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