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In Nigeria wächst die Angst vor Boko Haram

Einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen bringt die islamische Terrorsekte mit ihrer Offensive die Regierung um Goodluck Jonathan in die Bredouille

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 4 Min.

Für den amtierenden Präsidenten Goodluck Jonathan ist es ein Schlag ins Kontor: Bei den Angriffen der Terrororganisation Boko Haram auf die Stadt Baga im Bundesstaat Borno sind in den vergangenen Tagen offenbar Hunderte Menschen getötet worden. Am 14. Februar streitet Jonathan an den Wahlurnen um seine Wiederwahl. Wie 2011 wird ihm nur der Ex-Militärdiktator und Putschist Muhammadu Buhari (1983-85) gefährlich werden können, und dieses Mal hat er gute Karten: Der aus dem Norden stammende Muslim Buhari hat die Klärung des Problems Boko Haram inzwischen offen auf seine Wahlkampfagenda gepackt.

»In Nigeria wird die Stimmung landesweit stärker, dass nur ein Muslim aus dem Norden Nigerias der dort entsprungenen Terrorsekte beizukommen vermag. Jedenfalls eher als der aus dem südöstlichen Nigerdelta stammende Christ Jonathan, der nach seiner Regierungsübernahme 2010 Boko Haram lange Zeit keine sonderliche Beachtung schenkte, sondern es als lokales Problem abtat«, schildert der Nigeria-Experte Heinrich Bergstresser dem »nd«. »Die nigerianische Regierung steht massiv unter internationalem Druck, endlich der Boko Haram Herr zu werden.« Der Anschlag auf Charlie Hebdo werde ihn noch verstärken, denn wenn auch nicht vergleichbar, falle beides unter die Rubrik islamistischer Terror, so Bergstresser kurz vor dem Abflug nach Nigeria zu Recherchezwecken.

Die erste Reaktion ist bereits verkündet worden: Die nigerianischen Streitkräfte wollen die von Boko Haram eingenommenen Ortschaften im Nordosten des Landes zurückerobern. Das sagte ein ranghoher Regierungsvertreter örtlichen Medienberichten zufolge am Donnerstagabend (Ortszeit).

Auf die Unterstützung des Nachbarlandes Niger müssen sie dabei aber verzichten: Der nigrische Außenminister Mohamed Bazoum sagte dem hausasprachigen Dienst der BBC: »Wir haben 50 Soldaten dort (Baga, d. Red.) und haben entschieden, sie abzuziehen, nachdem Boko Haram im Oktober in Malam Fatori (Niger, d. Red.) eingefallen ist und seitdem in der Gegend straflos operiert.« Nigers Regierung ist über Nigerias mangelnde Entschlusskraft enttäuscht. »Wie Sie wissen, ist Baga unter Kontrolle der Boko-Haram-Terroristen, und solange die Stadt nicht von ihnen zurückerobert worden ist, werden wir unsere Truppen nicht zurückschicken.«

Die Umstände in Baga werfen ein Schlaglicht auf die wenig prosperierende Zusammenarbeit der Staaten des westafrikanischen Staatenbündnisses ECOWAS gegen Boko Haram, auch wenn Bazoum beschwichtigte: »Wir sind immer noch entschlossen, mit unseren Nachbarn Kamerun, Tschad und Nigeria die Situation einzudämmen - es ist ein Problem für uns alle.«

Bazoums Erkenntnis ist nicht neu, in der Tat hat sich der Terror der Boko Haram, der sich anfangs auf den Norden Nigerias beschränkte, inzwischen in die Grenzregionen ausgebreitet. Im Mai 2014 hatten die Staatsoberhäupter Nigerias, Nigers, Tschads, Benins und Kameruns daraufhin gemeinsam Boko Haram den Kampf angesagt und einen Anti-Terrormaßnahmen-Plan festgelegt. Passiert ist so gut wie nichts. Trotz des gemeinsamen Feindbildes hält gegenseitiges Misstrauen die Länder davon ab, zusammenzuarbeiten.

Die Terroranschläge der Boko Haram, die 2009 begannen, und der ebenfalls brutale Anti-Terrorkampf des nigerianischen Staates haben bisher mindestens 5000 Todesopfer gefordert und die Zahl der körperlich und psychisch Geschädigten in diesem Konflikt zwischen einer einst unbedeutenden islamistischen Sekte und dem Staat dürfte noch weitaus höher liegen.

Boko Haram entstand erst 2002 nach dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie 1999, die eher einer Demokratur gleicht. Im Gefolge dessen wurden in den zwölf nördlichen der 36 Bundesstaaten des 170-Millionen-Einwohner-Staates die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten benutzt, die Scharia als allgemein bindendes Recht einzuführen.

Boko Haram erhielt dadurch Auftrieb, Sektengründer Ustaz Mohammed Yusuf sah den Traum von einem islamischen Gottesstaat Wirklichkeit werden und wurde dann radikal von einstigen politischen Verbündeten ausgebremst: 2009 kam es zum Clash in seiner Hochburg Maiduguri. Mehr als 700 Menschen kamen ums Leben, als Militär und Polizei dem Herrschaftsanspruch der Sekte ein vorläufiges Ende setzten. Yusuf wurde dabei lebend gefasst und in Polizeigewahrsam zu Tode geprügelt.

Boko Haram war schwer getroffen, doch nach dem Tod des muslimischen und aus dem Norden stammenden Präsidenten Umaru Yar’Adua 2010 wurde Boko Haram weitgehend unbehelligt gelassen und konnte sich unter ihrem neuen Führer Abubakar Shekau regenerieren. Auf 3000 bis 5000 bestens bewaffnete Kämpfer wird die Terrorgruppe geschätzt, denen die 20 000 in der Region stationieren Soldaten, denen teils gar die Munition fehlt, bisher nicht beizukommen vermögen.

Vor den Wahlen ist mit einer staatlichen Großoffensive nicht zu rechnen. »Nach der Wahl wird jede Regierung - ob Buhari oder Jonathan - nicht umhin kommen, mit aller Kraft auf eine Klärung des Problems zu drängen«, ist sich Bergstresser sicher. Eine Verhandlungslösung zeichnet sich nicht ab. Zu den etwa 7300 Flüchtlingen, die laut UN-Flüchtlingshilfswerk in den vergangenen zehn Tagen im benachbarten Tschad angekommen sind, um sich vor den Kämpfen rund um Baga in Sicherheit zu bringen, werden weitere kommen. Von neuen Toten ganz zu schweigen.

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