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Alltäglich kleine und große Anfeindungen

Jüdische Bürger Frankreichs sehen immer öfter Gründe, über Netanjahus Einwanderungsangebot nachzudenken

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Anschluss an den gewaltigen »Republikanischen Marsch« von etwa eineinhalb Millionen Menschen am Sonntag in Paris fand am Abend in der Großen Synagoge eine Gedenkzeremonie für die vier jüdischen Opfer des Anschlags auf den koscheren Supermarkt statt. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu - wie informell zu hören war, nicht unbedingt erbetener Gast der französischen Regierung - nutzte die Gelegenheit der Teilnahme an dem religiösen Akt, um in Gegenwart seines Amtskollegen Manuel Valls ein paar politische Botschaften zu platzieren. Es sei, so Netanjahu, mit einer Welle von »Tausenden ausgebildeter und aufgehetzter Terroristen zu rechnen, die vom Nahen Osten kommend ihren ›Heiligen Krieg‹ nach Europa tragen wollen«.

Netanjahu forderte Juden in Frankreich angesichts der Terrorwelle in Paris zur Auswanderung nach Israel auf. »Jeder Jude, der nach Israel einwandern will, wird hier mit offenen Armen empfangen«, versicherte er in Paris, denn: »Der radikale Islam bedroht die ganze Welt.« Demgegenüber hatte der Großrabbi von Frankreich, Haim Korsia, zuvor erklärt, dass die französischen Juden »offen, ehrlich und loyal zu Frankreich stehen«.

Tatsächlich jedoch sind im vergangenen Jahr 6600 französische Juden - ein Rekord seit 1945 - nach Israel ausgewandert, dieses Jahr rechnet man mit 10 000. 34 000 Personen hätten sich nach den Möglichkeiten für eine Übersiedlung erkundigt.

Als Grund für derlei Wünsche geben die meisten Befragten an, dass sie der wachsenden Anfeindung durch Antisemitismus und der steigenden Gefährdung entgehen wollten. Von einer Verschlechterung der Lage spricht auch Roger Cukierman, der Vorsitzende des Rates der jüdischen Institutionen in Frankreich. So gebe es in den öffentlichen Schulen der Pariser Vorstädte mit ihrem hohen Anteil von Kindern aus muslimischen Familien fast keine jüdischen Schüler mehr, weil die durch ihre aufgehetzten Mitschüler terrorisiert, körperlich angegriffen und letztlich vertrieben worden seien.

Aber auch in anderen öffentlichen Schulen hätten junge Juden einen schweren Stand. Selbst Erwachsene sähen sich in der Öffentlichkeit oder an ihrem Arbeitsplatz immer öfter beleidigt oder gar tätlichen Angriffen ausgesetzt. Gegenüber den Übergriffen in Schulen zeigten Lehrer sich machtlos. Von den Behörden wiederum werde zumeist nichts getan gegenüber systematischer Hetze von Imamen, den Vorbetern einer Moschee. Auch andere Scharfmacher trügen »den Nahostkonflikt in den Alltag Frankreichs«.

Als besonders besorgniserregend bezeichnet Cukierman, wie Kriminelle in den Gefängnissen aufgehetzt werden können und wie das Internet zur Propagierung von Hass und zur Organisierung von Terror jeder Art gegen Juden genutzt werden kann. Unter denen werde immer öfter der Vorwurf laut, die Regierung spiele diese Gefahr bewusst herunter und gehe gegen extremistische Muslime nur halbherzig vor, weil fünf bis sechs Millionen Muslime eine größere Wählerschaft darstellten als die 600 000 Juden in Frankreich.

Als Reaktion auf den Terroranschlag auf den jüdischen Supermarkt vom Freitag, aber auch auf die Abwanderungsaufforderung Netanjahus erklärten Staatspräsident François Hollande und Premier Valls am Sonntag, dass Frankreichs Regierung alles tue, um ihre Bürger jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens zu schützen und zu unterstützen.

»Frankreich ohne seine Juden ist nicht mehr Frankreich«, erklärte Valls und teilte mit, dass die Polizeiposten vor den Synagogen sowie den jüdischen Schulen, Institutionen oder Läden verstärkt wurden.

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