Zu wenig leise Stimmen

Warum es den Roman der aktuellen Krise wohl nicht geben wird

  • Konstantinos Kosmas
  • Lesedauer: 5 Min.

Während das restliche Europa 1945 versuchte, sich vom Zweiten Weltkrieg zu erholen, stürzte Griechenland in einen Bürgerkrieg hinein. Nach der These des verstorbenen Autors und Übersetzers Alexandros Kotzias endete dieser nicht mit der Niederlage der Kommunisten 1949, sondern erst 1974, nach dem Ende der Militärdiktatur. Ein 30-jähriger Krieg, eine Dauerkrise, die Armut, Hass und tiefe Traumata hinterließ. Und großartige Literatur inspirierte. Meisterwerke der neugriechischen Prosa, etwa »Die Kiste« von Aris Alexandrou oder die Trilogie »Steuerlose Städte« von Stratis Tsirkas beziehen sich darauf.

Wenn man so will, ist Krise in Griechenland die Regel, Normalität hingegen ist nur die Verschnaufpause vor der nächsten Krise. Allerdings obwaltet jetzt eine Generation, die in der Verschnaufpause geboren wurde und die nun ob der Armut und dem Ohnmachts- und Abhängigkeitsgefühl wie gelähmt dasteht. Hat die aktuelle, immerhin schon seit fünf Jahren andauernde Krise, deren ökonomische Basis Politik, Gesellschaft, Ideologie und, wenn man es so melodramatisch mag, das Herz der Griechen getroffen und verändert hat, ihre Spuren in Kunst und Literatur hinterlassen? Kann man die Krise gar selber lesen?

Kaum. Denn anders als in der Zeit vom Bürgerkrieg bis zum Ausgang der schrillen sozialistischen PASOK-Ära Ende der 1980er kann keine Erzählung tragfähig genug sein, um Schuld oder Hoffnung zu stützen. Konnte die Aussicht auf eine reformierte Linke das Pech der 60er und 70er intellektuell erträglich machen und visionäre Literatur inspirieren, erlaubt die ideologische Zerstückelung im heutigen Land keine Prosa, die das Spektrum umfassend genug zusammenfassen könnte. Den Roman der Krise, nach dem gefragt und der erwartet wird, wird es wohl nicht geben.

Freilich hat es eine aktuelle Welle im Kino und im Theater geschafft, die Gewaltbereitschaft, die Absurdität und die soziale Leere als Ursprung oder Hauptprodukt eines maladen Alltags darzustellen. Vor allem Athen wimmelt nur so von unabhängigen Theaterbühnen, Literaturveranstaltungen und Kunstaktionen. Festivallieblinge wie »Dogtooth« von Giorgos Lanthimos und »Miss Violence« von Alexandros Avranas, die Bühnenprovokationen der Autorin und Theaterregisseurin Lena Kitsopoulou oder der Erfolg des offtheatralischen »Telemachos« von Antestis Azas zeugen davon.

Die Literatur aber vermag keinen Anschluss an die Kino- und Theatererfolge zu finden. Mit wenigen Ausnahmen. Eine solche ist Petros Markaris - eine Art Dauerbotschafter und Chefkommentator Griechenlands, verkleidet als Krimiautor, der in den letzten fünf Jahren eine »Trilogie der Krise« veröffentlichte. Als er sie ankündigte, soll ihn eine Journalistin gefragt haben, ob er denn so schnell sei, gleich drei Romane zu schaffen. »Mein Kind«, antwortete Markaris, »die Frage ist, ob die Krise nach den drei Romanen vorbei sein wird.«

Markaris veröffentlichte 2014 den »Abspann« gleichsam als vierten Teil seiner Trilogie - wohl als eigenen Beitrag zur berüchtigten griechischen kreativen Logistik; der nächste Roman erscheint im Frühjahr. Man kann gut verstehen, warum Markaris so gern gelesen wird. Bilder eines chaotischen Athens, trockene, messerscharfe Aphorismen über Ursache und Auswirkungen der Krise, Szenen wie die Selbstmorde verzweifelter Freiberufler oder Rentner, die die Erwartungen eines korrupten und gleichsam frustrierten Kollektivs erfüllen und hie und da Lichtschimmer, meistens durch eine Jugend, die Visionen hat und anpackt. Was will man mehr?

Eine subtilere Schule vertritt Christos Ikonomou, eine junge und sehr spannende Erscheinung der Literaturszene Griechenlands. Auf Deutsch ist bereits sein Erzählband »Warte nur, es passiert schon was« erschienen. Gleich mit dem Anfang der Krise verwandelte sich das Wort zum Salz in der Klappentext- und Pressemitteilungsküche aller Verlage: »der Roman zur Krise«, »ein Krisenroman«, sogar Anthologien der Literatur nach der Krise sind mittlerweile erschienen. Ikonomou jedoch war derjenige, der mit einer verblüffend trockenen Poesie eine noch nicht richtig wahrgenommene Realität literarisierte: Die Griechen waren und sind immer noch arm und Migranten. Der Glanz der 1990er und der Zeit um die Olympischen Spiele von 2004 war nur ein dünner Firnis, der allzu leicht zerbröselte und eine unliebsame Wahrheit offenbarte. Ikonomous rührende, derbe, komische und verzweifelte Erzählungen mögen nicht »das Buch zur Krise« sein, oder doch? Nach der Lektüre hat man zwar nicht das Wissen oder das Bild, dafür aber ein sehr gutes Gefühl davon, was Menschen empfinden, die im urbanen Griechenland von heute leben. Sprachlich noch ausgereifter sind ihm seine neuesten Erzählungen »Das Gute wird übers Meer kommen« gelungen, noch nicht, aber hoffentlich bald auch auf Deutsch.

Es gibt einige Bücher, die im Fahrwasser des Krisen-Diskurses erschienen sind, etwa diejenigen des Aphoristikers, Bloggers und Quasiphilosophen Nikos Dimou. Dimou spricht, genauso wie Markaris, perfekt Deutsch. Er studierte vor langer Zeit in München und ging zurück nach Griechenland, um bei der in den 1960er und 70er Jahren schonungslos verpönten Werbebranche zu arbeiten. Irgendwann Mitte der 70er schrieb er seinen Klassiker: »Vom Unglück, ein Grieche zu sein«. Schon der griffige Titel verrät seine Werbeagentur-Qualitäten. In kurzen Aphorismen legt er seine Erzählung dar, die ungefähr so lautet: Was die Griechen ausmacht, kann man gut zusammenfassen. Sie sind ungebildet und eingebildet, aber doch ganz lieb, und es gibt einige (wie den Autor), die gebildet, nicht eingebildet und trotzdem ganz lieb sind.

Das Buch war vor 30, 40 Jahren der Hit, wohl auch unter den Ungebildeten und Eingebildeten. Der sehr sympathische und einfallsreiche Narziss Nikos Dimou erfuhr durch die Krise endlich die Chance, auch in Deutschland gelesen zu werden, nicht zuletzt sein zweites Büchlein: »Die Griechen (die Deutschen) sind an allem Schuld«. Darin denkt er über Griechenland als vielfältige Projektionsfläche der Deutschen nach.

Es gibt weitere, zarte Stimmen, die ein aktuelles Bild drastisch und ästhetisch anspruchsvoll vermitteln, etwa die des Romanciers Thodoros Grigoriadis. In seinem leider noch nicht übersetzten Roman »Elli’s Geheimnis« werden Verzweiflung, Solidarität, Armut, Liebe, Stolz und Alltagsüberlegungen zur Krise diskret und in einer rührenden Liebesgeschichte vermittelt. Überhaupt ist es an den leisen und subtilen Stimmen, die Krise verständlich, spürbar, erträglich zu machen. Nicht an den großen, lauten und schrillen. Die übertönen nur alles. Doch leider gibt es davon mehr als genug, nicht nur in Griechenland.

Dr. Konstantinos Kosmas ist Literaturübersetzer und Koordinator des Centrum Modernes Griechenland (CeMoG) an der Freien Universität Berlin

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