Macht der Erinnerung

65. Berlinale: »45 Years« von Andrew Haigh

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Unser vergangenes Leben schläft in uns. Bis ein Zufall es aufweckt, und dann ist gestern wieder wie heute. Zufall? Man kann es auch die Macht der Erinnerung nennen, jene Suche nach der verlorenen Zeit, an der sich unser Gedächtnis ständig abarbeitet. Wenn wir schlafen, dann sind die Träume der Ort der Kindheit, der ersten Liebe, der frühen Ängste, die wir heute nicht mehr verstehen, weil uns inzwischen andere beherrschen. Sind wir überhaupt noch diejenigen, die wir vor langer Zeit einmal waren? Wie viele verschiedene Leben führen wir - was wird aus einem früheren, wenn ein späteres beginnt. Wo ist es hin?

Das sind die Fragen, die Geoff (mit rissiger Altersschale, durch die jugendliche Anarchie dringt: Tom Courtenay) in Andrew Haighs »45 Years« überfallen, nachdem er einen Brief gelesen hat. Geoff lebt mit seiner Frau Kate in in einer kleinen englischen Ortschaft, in einigen Tagen wollen sie ihren 45. Hochzeitstag feiern. Und nun dieser Brief. In ihm steht, dass man sie gefunden hat, im ewigen Eis eines Gletschers. Sie, dass ist Geoffs frühere Freundin, mit der er vor fünfzig Jahren eine Bergtour durch die Schweizer Alpen unternahm, auf der das Mädchen tödlich verunglückt war. Ein Schrei, und sie war fort für immer, in einer Felsspalte verschwunden. Kate hatte davon gehört, aber das war eine Geschichte, die vor ihr passiert war, das ging sie nichts an.

Doch für Geoff ist die Vergangenheit plötzlich nicht mehr vergangen, sondern eine offene Wunde, die unerwartet stark schmerzt. Kate ist irritiert. Sie kennt Geoff plötzlich nicht mehr. Immerzu spricht er von dem Mädchen, das damals seine Frau werden sollte, es ist, als lebte sie noch. Er sucht nach alten Fotos, recherchiert in der Bibliothek über Gletscher, überlegt, ob er in die Schweiz reisen soll, um den im Eis konservierten Leichnam zu sehen - alles Dinge, die ihn von Kate fern rücken, so scheint es ihr jedenfalls. Kate ist eifersüchtig auf eine Tote, sie weiß, das ist lächerlich, aber sie kann nichts dagegen tun, eine unsichtbare Kraft scheint zwischen sie und Geoff zu treten und ihr die bislang gemeinsame Vergangenheit streitig zu machen. Aber sie weiß, es ist auch ein Mysterium, jenes der vergehenden Zeit, mit dem sie beide plötzlich konfrontiert sind.

Charlotte Rampling spielt Kate mit aller britischen Zurückhaltung, sie ist eine Frau, die die Entscheidungen ihres Lebens mit besonnener Vernunft trifft. Und nun dieser Einbruch eines lang zurückliegenden Gestern, der Geoffs Gefühle so verwirrt, dass sich Kate betrogen vorkommt. War sie gar nur der nie ganz gleichwertige Ersatz für diese fremde junge Frau, hat sie etwa in deren Schatten gelebt?

Regisseur Andrew Haigh hat sich ein urromantisches Motiv genommen und es im Alltag zweier älterer Menschen, die sich längst in der Alltagsroutine eingerichtet haben, aufblühen lassen. Denn für unsere Erinnerung trifft nicht zu, dass das, was zeitlich am weitesten zurückliegt, uns innerlich am fernsten ist. Die Poesie - auch die Erotik - des Anfangs ist etwas, das uns prägt, dem wir den Rest des Lebens hinterherlaufen, ohne es je wieder einholen zu können. Es gibt nur eine Kindheit, immer nur ein erstes Mal, und dieses bleibt eine bestimmende Macht in uns.

Das Motiv hat bereits Johann Peter Hebel in »Unverhofftes Wiedersehen« behandelt. Ein junger Bergmann verunglückt am Vorabend seiner Hochzeit, die Leiche bleibt verschwunden - fünfzig Jahre später gibt der Berg die im Vitriolwasser der Tiefe konservierte Leiche wieder frei. Eine alte Frau beugt sich über ihren jung gebliebenen Bräutigam, der aussieht, als hätte er sich vor einem halben Jahrhundert nur kurz schlafen gelegt. Kurz darauf stirbt sie an der Erschütterung, die ihr dieses Bild vom schönen jungen Bräutigam bereitet hat.

Nein, Geoff stirbt nicht an der Wiederbegegnung mit seiner toten und plötzlich so lebendigen Freundin, die er einst heiraten wollte. Aber die Erinnerungen streiten heftig in ihm, und es ist ein schweres Stück Arbeit, aus der inneren Konfusion herauszufinden. Nein, wir leben nie nur in einer Wirklichkeit, die uns bestimmenden Dinge tragen wir immer mit uns. Lange schlafen sie, dann sind sie plötzlich wach und verlangen Antwort.

Doch trotz des inneren Ausnahmezustandes zweier alter Menschen, die plötzlich ihre Identität erschüttert sehen, ist »45 Years« ein stiller, darum um so genauer beobachtender Film geworden. In Charlotte Ramplings Gesicht wie ihren Gesten streitet sie mit sich selbst darum, die ihr bislang unbekannte Seite ihres Mannes als etwas zu nehmen, das künftig auch zu ihr gehören wird. Sie will nicht teilen, schon gar nicht mit einer Toten - aber langsam wächst auch in ihr das Wissen, dass wir mit unseren Erinnerungen in Frieden leben müssen, dass sie ein kostbarer und zu behütender Reichtum sind.

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