Erste Ernte, offene Felder

100 Tage Rot-Rot-Grün in Thüringen: Wo links schon gewirkt hat - und welche drei Herausforderungen die Linkspartei meistern muss. Ein Gastbeitrag

  • Susanne Hennig- Wellsow
  • Lesedauer: 8 Min.

Seit 100 Tagen ist die neue Thüringer Landesregierung nun im Amt. Am 5. Dezember 2014 wählte der Erfurter Landtag Bodo Ramelow zum ersten Ministerpräsidenten der Partei DIE LINKE. Erstmals trägt eine rot-rot-grüne (r2g) Koalition eine Landesregierung. Am 14. September hatte DIE LINKE mit 28,2 Prozent der Stimmen das bisher bundesweit beste Ergebnis bei einer Landtagswahl der Partei eingefahren. Ebenso wie 2009 gab es erneut eine rechnerische Mehrheit für r2g - und diesmal auch den Willen bei SPD und Grünen, das politische Experiment zu wagen. Zudem gab es für den Wechsel wahrnehmbare Unterstützung aus der Bevölkerung und aus den Gewerkschaften.

In gewisser Weise ließ sich im Freistaat eine Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse feststellen: Die alten Konstellation waren nicht mehr in der Lage, die Wähler zu überzeugen und eine vorhandene parlamentarische Mehrheit zu einer Regierung zu organisieren. Die CDU war nicht mehr handlungsfähig, politisch verbraucht und versprach keinen ausreichenden Nutzen mehr. Der nun regierenden Alternative wird aber genau das zugetraut.

Diese historische Chance, auf die sich die PDS / DIE LINKE in Thüringen seit langem vorbereitet hat, mussten wir nutzen - oder sie ungenutzt verstreichen lassen. LINKE, SPD und die Grünen haben sich auf zahlreiche Projekte für einen demokratischen, sozialen und ökologischen Wandel des Freistaates geeinigt. Bereits in den ersten 100 Tagen haben wir wichtige Vorhaben durchs Parlament oder im Kabinett auf den Weg gebracht.

Erste Schritte sind gemacht

Schon die ersten Schritte zeigen, dass r2g ernst macht mit einer anderen Politik. So haben wir bereits 184 neue Lehrer eingestellt. Künftig werden wir pro Jahr 500 neue Pädagogen an die Schulen holen, um eine bessere Bildung für unsere Kinder zu ermöglichen. Wir haben ein Bildungsfreistellungsgesetz beschlossen, so dass nun endlich auch in Thüringen Arbeitnehmer das Recht auf bezahlte Freistellung für Weiterbildung haben.

Mit der Abschaffung der sogenannten »Herdprämie«, dem von der CDU eingeführten Landeserziehungsgeld, haben wir den Einstieg in ein gebührenfreies Kita-Jahr geschafft. 20 Millionen Euro sind so zum Ausbau der Kinderbetreuung freigeworden. Wir haben die Einrichtung eines zweiten NSU-Untersuchungsausschusses beschlossen, um die Aufklärung des rechten Terrors weiter zu verfolgen.

Zudem hat das Innenministerium die Überprüfung begonnen, welche Spitzel der Thüringer Geheimdienst abschalten muss. Künftig ist der Einsatz von Spitzeln nur noch in engen Grenzen und im Fall von Terror-Gefahr erlaubt. Und an Schulen hat der Inlandsgeheimdienst mit seinen Vorträgen und Ausstellungen nun nichts mehr zu suchen.

Der im Dezember 2014 als erste Maßnahme der Regierung erlassene Winterabschiebestopp war ein Signal, dass Thüringen künftig eine humanitäre Flüchtlingspolitik machen wird. Mit dem Beschluss, dass durch die Fraktionen keine unzulässigen Zulagen an Abgeordnete des Landtages mehr gezahlt werden dürfen, haben wir einen Schlussstrich unter die schamlose Selbstbedienung der CDU in den vergangenen Jahren gezogen. Der Einstieg in die dringend notwendige Verwaltungs-, Funktional- und Gebietsrefom ist endlich beschlossene Sache. Jahrelang hatten wir in der Opposition dafür gestritten.

Und um demokratische Mitbestimmung auszuweiten, hat die Landesregierung die Absenkung des Wahlalters bei Landtags- und Kommunalwahlen auf 16 Jahre auf den Weg gebracht. Unter der CDU hatte die Thüringer Landesregierung immer mit dem Argument von Billig- und Armutslöhnen für den Standort geworben. Die neue Regierung wirbt dagegen offensiv für den Mindestlohn.

Auch in der Bundespolitik hat Thüringen bereits in den ersten 100 Tagen Akzente gesetzt. Gemeinsam mit der Brandenburger Regierung haben wir das von der Bundesregierung vorgelegte »Gesetz zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr« von der sogenannten »Grünen Liste« des Bundesrates gekippt. Darauf stehen Vorlagen, gegen die es aus den Ländern keine Bedenken gibt. Klar ist, dass wir angesichts der derzeitigen Mehrheiten in Bundesrat und Bundestag das Gesetzt nicht stoppen können. Aber wir konnten klar machen, dass es mit dem Gesetz nicht vorrangig um die soziale Verbesserungen für Soldaten geht, sondern um die Rekrutierung junger Menschen für Auslandseinsätze.

Am Ende werden wir daran gemessen, ob die Regierung ihre Versprechen hält und für die Menschen in Thüringen reale Verbesserungen erreicht. Der praktische Nutzen im Hier und Jetzt wird der Gradmesser dafür sein, ob die Regierung erfolgreich ist oder nicht. Ich bin mir sicher: Unsere Bilanz kann sich bisher sehen lassen. Links wirkt, auch in der Regierung.

Schwierige Ausgangslage

Die alte, CDU-geführte Regierung organisierte vor dem Regierungswechsel noch eine Reihe von Störmanövern. Thüringens damaliger Finanzminister Wolfgang Voß (CDU) überwies eigenmächtig und ohne Kenntnis des alten Kabinetts Rücklagen in Höhe von 200 Millionen Euro an die Banken. Offiziell, um Schulden zu tilgen, doch tatsächlich sollte so der neuen Regierung erschwert werden, dringend benötigtes Geld für finanziell not leidende Kommunen bereit zu stellen. Und in den CDU-geführten Ministerien wurden die Stellen für persönliche Referenten, Pressesprecher usw. kurzerhand gestrichen, so dass sie nicht nahtlos mit neuem Personal besetzt werden konnten.

Die neuen Ministerinnen und Minister standen am Anfang teils allein in ihren Häusern. Die Regierung steht nun vor der Aufgabe, das Verwaltungshandeln in Ministerien und Ämtern auf den Weg bringen, die fast ein viertel Jahrhundert vor allem CDU-geführt waren. Doch mit einem integrativen, offenen und professionellem Umgang gelang der Wechsel gut. Nach Jahren von Filz, Postenschieberei und Personalskandalen - gerade in der Staatskanzlei - sind die neuen Zustände auch für viele Beamte und Angestellte eine Befreiung.

Kein homogenes linkes Projekt

In den kommenden Wochen und Monaten verhandeln wir den Landeshaushalt 2015. Um auf der Grundlage belastbarer Zahlen zu planen, hatte die Regierung erst einmal einen Kassensturz verabredet. Zu viele Unsicherheiten und schwarze Löcher hatte die CDU-geführte Landesregierung und ihr Finanzminister hinterlassen. Auf der Grundlage unserer Zahlen werden wir nun die Projekte des Koalitionsvertrages mit Geld untersetzen können. Solange fährt die Regierung finanziell auf Sicht. Entscheidend für die Politik der nächsten Jahre wird aber der Doppelhaushalt 2016/2017 sein, den wir dann weitgehend unbelastet von den Haushaltsentscheidungen unserer Vorgängerregierung angehen können. Dort werden wir Kraft investieren müssen, um politische Schwerpunkte und Akzente zu setzen.

Der Doppelhaushalt in der Mitte der Legislaturperiode wird den Charakter des sozialen, ökologischen und demokratischen Umbau des Freistaates aus dem gemeinsamen Koalitionsvertrag widerspiegeln müssen. Knackpunkte und Diskussionen zeigen sich aktuell bei der durch ein Verfassungsgerichtsurteil nötig gewordenen Neuregelung der Finanzierung freier Schulen. Hier gibt es in den die drei Parteien tragenden Wählerschichten unterschiedliche Vorstellungen. Im Koalitions-Ausschuss haben wir zu der Finanzierung einen guten Kompromiss gefunden, der zur Angleichung der Chancen der Schüler auf den verschiedenen Schulformen führen wird. Doch die Diskussion hat noch einmal klar gemacht, dass die Koalition kein homogenes linkes Projekt ist. Es ist eine Kooperation von Parteien mit unterschiedlicher Geschichte, unterschiedlichen politischen Kulturen und unterschiedlichen Parteiprogrammen.

Offene Felder für die Linkspartei

Ich sehe mindestens drei große Problemfelder, die von der Partei abgearbeitet werden müssen, will sie erfolgreich Politik auch in Regierungsverantwortung machen – egal ob in Ländern oder eines Tages vielleicht im Bund:

Erstens: Unser Landesverband hat seine Politik seit jeher daran ausgerichtet, was 2004 von der PDS als »strategisches Dreieck« beschrieben wurde: »Für sozialistische Politik nach unserem Verständnis bilden Widerstand und Protest, der Anspruch auf Mit- und Umgestaltung sowie über den Kapitalismus hinaus weisende Alternativen ein unauflösbares strategisches Dreieck.« Wir müssen also nun auch konkrete Ideen entwickeln und praktisch erproben, wie Regierungspolitik nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch transformatorisch in Richtung eines demokratischen Sozialismus wirken kann.

Mehr Geld für die Kommunen, bessere Kitas oder weniger Spitzelei durch den Geheimdienst sind richtige Schritte, aber noch keine wirklichen Bewegung hin zu einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft. Michael Brie beschrieb diese Herausforderung linker Regierungspraxis: »Positiven Einzelergebnissen steht bisher zumeist die Unfähigkeit gegenüber, eine stabile gegenhegemoniale Formation zu schaffen, die den Neoliberalismus in seinen Grundelementen herauszufordern und und einen stabilen Pfad der Transformation einzuschlagen vermag. Dies aber ist die nächste Aufgabe«.

Zweitens: Uns fällt immer wieder unsere fehlende »Kaderpolitik« auf die Füße. Egal, ob kommunal im Landratsamt oder im Land in einem Ministerium: die politische Durchsetzung der Ministerien und Verwaltungen mit Getreuen anderer Parteien stellt uns vor große Schwierigkeiten, linke Politik zu realisieren. Die Besetzung von Positionen in den Behörden mit formal und fachlich qualifiziertem »eigenem« Personal in ausreichender Zahl ist eine Herausforderung. Hier muss DIE LINKE – will sie künftig in Regierungsverantwortung dauerhaft Erfolge haben – massiv in Qualifizierung und Personalentwicklung investieren.

Drittens: Das weitere Absinken der Wahlbeteiligung ist ein massives Problem für linke Politik. Die hauchdünne Mehrheit von r2g in Thüringen zeigt das drastisch. »Die Zunahme der Wahlenthaltung hat einen Klassencharakter«, schrieb Horst Kahrs völlig richtig. Gerade jene, die einen verlässlichen Sozialstaat und öffentliche Daseinsfürsorge brauchen, machen von ihrem Wahlrecht unterdurchschnittlich Gebrauch. Im Ergebnis, so Kahrs, müssen wir eine »systematische Verdrängung« eines Teils der Menschen aus dem politischen Leben feststellen. Politik habe sich »von der alltäglichen Lebenswelt eines Teils der Wahlbevölkerung erheblich entfernt«. Es gilt, Menschen nicht allein in Wahlkämpfen zu umwerben, sondern »eine Alltagsbeziehung mit ihnen auf(zu)bauen«. Dafür ist es auch notwendig, »wieder eine Vorstellung und ein Gefühl von der eigenen Macht und der Veränderbarkeit der Verhältnisse zu entwickeln«, schreibt Kahrs.

Angesichts der Zumutungen im Kapitalismus und der heutigen Gesellschaft braucht es DIE LINKE, eine Organisation, die »als Ort der gemeinsamen Praxis funktioniert, in der sich Erfahrungen neu zusammensetzen und gesellschaftlich etwas bewegen können«, wie Raul Zelik schrieb. Also eine Organisation, in der sich im politische Alltag – und nicht nur auf Parteitagen - jene Menschen treffen, die linke Kommunalpolitik machen, in der Nachbarschaft für eine solidarische Gesellschaft werben, sich gegen Neonazis oder für den Erhalt von Kitas und Schwimmbädern engagieren, für gerechte Löhne streiten, in Sozialverbänden Solidarität praktisch organisieren, in wendländischen Wäldern Atommülltransporte blockieren, an Hochschulen kritische Wissenschaft reetablieren, linke Kultur organisieren, am 8. März für Frauenrechte auf die Straßen gehen - oder eben auch in einer Landesregierung in Thüringen für linke Politik streiten.

Susanne Hennig-Wellsow ist Vorsitzende der Partei DIE LINKE Thüringen und Vorsitzende der Linksfraktion im Thüringer Landtag.

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