Jenseits der Feindbilder

Die Erinnerungen des türkisch-armenischen Schriftsteller Kirkor Ceyhan an die Tragödie seines Volkes und seiner Familie

  • Mario Pschera
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenn es an der Tür klopft, ist es nicht immer der Postbote. Für den türkisch-armenischen Schriftsteller Kirkor Ceyhan (1926 bis 1999), Vorbild für eine ganze Generation von Schriftstellern, war es der Gendarm oder ein osmanischer Polizist aus den Erzählungen des Vaters, der die Deportationen der Armenier in die Todeslager von Deir ez-Zor überlebt hatte. Nach unsteten Jahren, die ihn vom osttürkischen Zara nach Istanbul, Armenien, Frankreich und wieder nach Istanbul führten, schrieb er im Bonner Exil die Geschichte seiner Familie auf, eine haarsträubende Geschichte, wie sie Hunderttausende erleben mussten.

Seit der faktischen Entmachtung des Sultans 1909 regieren die Jungtürken und treten an der Seite des Deutschen Reiches in den Weltkrieg ein. Niederlage türmt sich auf Niederlage, die Kaukasusfront wankt und die linksnationalistischen Daschnaken, armenische Freischärler, kämpfen an der Seite des Zaren für ihre Unabhängigkeit. Das Triumvirat der Paschas befiehlt daraufhin 1915 die Vernichtung und Deportation der »abtrünnigen« Armenier.

Auf dringendes Anraten seines türkischen Vorgesetzten konvertiert der Bausoldat Simon mit Kind und Kegel zum Islam und entgeht so den von den Jungtürken angeordneten »Säuberungen«. Eines Nachts klopfen Anania und Setrak, zwei Flüchtlinge, an seine Tür. Trotz seiner Angst und Zweifel nimmt Simon die beiden Todgeweihten bei sich auf und besiegelt so das Schicksal seiner Familie. Denn bald schon werden sie denunziert, verhaftet und, begleitet von einer Eskorte der Gendarmerie, auf den langen Weg nach Syrien geschickt.

Unterwegs begegnen ihnen dumpfe Militärs und Bürokraten, Deserteure und Entwurzelte, gleichgültige Konvertiten, aber auch das Mitgefühl einfacher Dörfler, die sich der Deportierten erbarmen. Und Läuse: »Die Karawansereien, Kaffeehäuser, Gendarmerieposten, Ställe, Strohhütten, Wege und Dorfstuben, alles war über und über voll mit Läusen. Selbst wenn an den Fronten alles in bester Ordnung wäre, allein die Läuse würden die Osmanen ratzekahl auffressen.«

Simons jüngstes Kind stirbt an den Strapazen, dann seine gelähmte Schwester. In einem Lager fallen die zusammengepferchten Insassen in einem wahren Blutrausch übereinander her, die Wachen schauen weg. Glück im Unglück für Simon und seine Leidensgefährten: ein osmanischer Stabsarzt weist die Verwundeten in ein Lazarett ein und verschafft ihnen so eine Atempause. Bald geht es wieder auf den unerbittlichen Weg nach Urfa, der letzten Station vor Syrien. Doch die Südfront ist längst zusammengebrochen, Flüchtlinge und Deportierte füllen die Stadt, die im Chaos versinkt. Ein Beamter, der dem wahnwitzigen Treiben der Jungtürken skeptisch gegenübersteht, bringt den kleinen Trupp auf eigene Faust bei Bekannten in einem beschaulichen Städtchen unter.

Das Blatt scheint sich zu wenden, und dann ereignet sich ein kleines Wunder, als Anania mit Hilfe seiner türkischen Nachbarn seine Kinder wiederfindet. Die Deportationen werden schließlich ausgesetzt. Doch auf die Männer wartet der Einberufungs᠆befehl …

Derb bis satirisch geht es bei Ceyhan zu, er zeigt ein Panoptikum von Verlierern. Ethnische oder religiöse Unterschiede lässt er nicht gelten, denn Feigheit, Kleinmut, aber auch Größe ist Armeniern, Arabern, Kurden wie Türken zu eigen. Seine Romanfiguren sind Getriebene und Handelnde zugleich, der Ich-Erzähler zweifelt und hofft, sucht einen Sinn in diesen Wirren und findet ihn im Menschen selbst, in all dessen Humanität und Niedertracht, Liebe und Bosheit. Jenseits der Feindbilder.

Kirkor Ceyhan: Ein Klopfen an der Tür. Der abenteuerliche Weg des Simon C. aus Zara. Aus dem Türkischen von Michael R. Hess und Sebile Yapıcı. Dağyeli Verlag. 148 S., geb., 14,80 €.

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