Ein Vulkan macht Geschichte

Vor 200 Jahren ereignete sich eine der größten globalen Klimakatastrophen der Neuzeit. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Jahr 1816 ging als ein ganz besonderes in die mitteleuropäische Geschichte ein - als »Jahr ohne Sommer«. Seit Wochen habe es alle Tage geregnet, berichtete ein Bauer im Juli 1816 in der Dorfchronik von Dormagen: »Das Korn ist noch grün, Erdäpfel und dicke Bohnen wegen dem vielen Regen noch zu jung.« Auch anderswo in Deutschland war das Wetter zwischen Mai und September fast durchweg feucht und kalt. Hinzu kamen Gewitter und Hagelschauer, die große Teile der Ernte vernichteten. Brot gebe es schon länger nicht mehr, notierte der Bauer aus Dormagen: »Viele brave Leuthe kommen am Abend und sprechen in wohlhabenden Häusern um Broth an. Die Noth ist sehr dringend, weil das alte Gemüsse alle aufgezehrt ist.«

Mehr noch als in Deutschland litten die Menschen in der Schweiz unter der Hungersnot. Viele verzehrten hier »die unnatürlichsten, oft ekelhaftesten Sachen, um ihren Heißhunger zu stillen«, hielt ein Zeitgenosse fest. Mancherorts hätten die Kinder »im Gras geweidet wie die Schafe«. Zur selben Zeit verließen Tausende hungernde und unter den Spätfolgen der Napoleonischen Kriege leidende Europäer ihre Heimat und wanderten aus - nach Russland, aber vor allem nach Nordamerika, wo der Sommer 1816 nicht minder frostig ausgefallen war.

Das Wort von der »Strafe Gottes« machte die Runde. Denn kein Mensch in Europa ahnte, dass er gerade Zeuge einer der größten Klimakatastrophen der jüngeren Geschichte geworden war. Erst 1920 fand der US-Physiker William Jackson Humphreys eine Erklärung für die seltsamen Geschehnisse des Jahres 1816. Er führte sie zurück auf ein gewaltiges Naturereignis, das im April 1815 rund 11 000 Kilometer von Europa entfernt stattgefunden hatte - auf der indonesischen Insel Sumbawa.

Nachdem der hier gelegene Vulkan Tambora über Jahrhunderte inaktiv gewesen war, brach er am 5. April 1815 wieder aus. Die Eruptionen mittlerer Stärke hielten einige Tage an, ehe es am 10. April zu einer gigantischen Explosion kam, die Tausende von Kilometern zu hören war. Der Gipfel des Tambora wurde dabei buchstäblich weggesprengt, und der vormals 4300 Meter hohe Vulkan schrumpfte auf eine Höhe von 2850 Metern. Die Explosion hatte die vierfache Energie des Krakatau-Ausbruchs von 1883, ihre geschätzte Sprengkraft entsprach der von 170 000 Hiroshima-Bomben.

Ein Ascheregen ging auf die Umgebung nieder, dem ein Wirbelsturm und ein Tsunami folgten. Nach Schätzungen fielen rund 10 000 Menschen dem Ausbruch direkt zum Opfer, fast hunderttausend starben später aufgrund von Hunger und Krankheiten.

Neben Staub und Asche schleuderte der Vulkan ca. 400 Millionen Tonnen Schwefelgase in die Atmosphäre, die sich dort verteilten und wie ein Schleier um den Globus legten. Dadurch gelangten deutlich weniger Sonnenstrahlen auf die Erde, sodass die globale Durchschnittstemperatur um etwa drei Grad Celsius sank. Aufgrund der Windzirkulation waren jedoch nicht alle Kontinente gleichermaßen von den Auswirkungen des »Vulkanwinters« betroffen. Während es in Russland relativ mild blieb, traf die Kälte West- und Mitteleuropa mit voller Wucht.

Schuld an dieser Entwicklung waren aber nicht nur die Tambora-Eruptionen. Die Analyse von Eisbohrkernen lege vielmehr den Schluss nahe, »dass es bereits 1809 einen weiteren starken Vulkanausbruch gegeben hat«, sagt der Potsdamer Klimaforscher Georg Feulner. Die Frage nach dem Ort und genauen Zeitpunkt des Ausbruchs ist allerdings offen.

Von dem französischen Soziologen Émile Durkheim stammt der Satz, dass Soziales nur durch Soziales zu erklären sei. In dieser Absolutheit trifft das sicherlich nicht zu. Denn auch klimatische Umbrüche beeinflussen den Verlauf der Geschichte. Tambora wäre hierfür ein gutes Beispiel, wenngleich nicht das einzige: Im Jahr 1783 brachen auf Island die sogenannten Laki-Krater aus. Dabei gelangten so viele Aerosole in die Stratosphäre, dass sich der Himmel für längere Zeit verdunkelte. In Westeuropa führte die sich ausbreitende Kälte zu Viehseuchen und Missernten sowie zu einem Anstieg der Brotpreise. Da Frankreich unter König Ludwig XVI. über keine staatlichen Vorratsmagazine für Getreide mehr verfügte, war die Situation hier besonders prekär. Und sie verschärfte sich, als auf das Dürrejahr 1788 ein bitterkalter Winter folgte. Vereinzelt kam es daraufhin zu Hungerrevolten und Überfällen auf Getreidetransporte.

Nachdem im Frühjahr 1789 die Überschwemmungen abgeklungen waren, folgte erneut eine Dürre. Die Flussläufe trockneten aus, die Mühlen blieben stehen. Die Getreide- und Brotpreise kletterten noch einmal in die Höhe und erreichten am 14. Juli 1789 ihren Höchststand. Am selben Tag begann mit dem Sturm auf die Bastille die Französische Revolution. Zwar könne man für deren Ausbruch nicht vorrangig das Klima verantwortlich machen, meint der Historiker Wolfgang Behringer. Aber die Französische Revolution sei auch eine Revolution des Hungers gewesen. Und die davon betroffenen Menschen wären vermutlich nicht derart in existenzielle Nöte geraten, wenn es seinerzeit nicht so verheerende Missernten gegeben hätte. Missernten, die durch einen Klimawandel bedingt waren, der im Vergleich zur heute drohenden Erderwärmung allerdings nur als kleines Vorspiel gedacht werden kann.

Doch kehren wir noch einmal zurück zum Ausbruch des Tambora, der nicht nur Unheil über viele Menschen brachte, sondern auch Auslöser war für wegweisende Schöpfungen: In Württemberg gründete König Wilhelm I. 1818 eine landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt, aus der später die Universität Hohenheim hervorging. Der Chemiker Justus von Liebig wurde durch die Erinnerung an die Hungernot von 1816 zum Studium des landwirtschaftlichen Pflanzenwachstums und zur Entwicklung des Mineraldüngers angeregt. Aber auch die Erfindung der Draisine gehört in diese Reihe. Da infolge der Futtermittelknappheit in Mitteleuropa zahllose Pferde verendet waren, konstruierte der badische Forstmeister Karl Drais 1817 die Laufmaschine, die Urform des heutigen Fahrrads, das im Gegensatz zu anderen mechanischen Fortbewegungsmitteln nahezu »klimaneutral« ist.

Im Anschluss an den Ausbruch des Tambora kam es zu merklichen Veränderungen im Farbspektrum des Tageslichts. Vor allem die Sonnenauf- und -untergänge in Europa waren von nie dagewesener Schönheit. Sie schimmerten in allen Schattierungen: Rot, Violett, Organe, Gelb, häufig sogar in Blau- und Grüntönen. Davon inspiriert schuf der englische Maler William Turner 1815 das Gemälde »Dido erbaut Karthago«, welches er selbst für sein Meisterwerk hielt und dessen Farbgebung uns heute fast unwirklich anmutet.

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