Ein langes Säculum

Orlando Figes über Russland und die Revolution

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 2 Min.

Der Charme der runden Zahl bestimmte Zeitraum und Titel des neuen ambitionierten Buches des Londoner Historikers Orlando Figes. Es handelt von Russland im 20. Jahrhundert. Weil das Ergebnis der bolschewistischen Revolution, der »real existierende Sozialismus«, 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete, widmet der Autor einen wichtigen Teil seines Buches der Vorgeschichte der Oktoberrevolution. Diese beginne im Jahr 1891. Damals reagierte die russische Bevölkerung »derartig heftig auf die Hungerkrise, dass sie zum ersten Mal auf einen Kollisionskurs mit der Autokratie geriet«.

Figes ist ein ausgewiesener Russlandkenner. Er achtet auf Lesbarkeit, was wir von angelsächsischen Historikern gewohnt sind, und geht mit manchen Details recht großzügig um. Die westliche Perspektive lässt sich nicht leugnen. Er legt seine Feder auf viele schmerzende Wunden: Terror, ökonomische Fehler, intellektuelle Dürftigkeit des Leitungspersonals. Dabei werden wichtige Fragen nicht aufgeworfen: War die bolschewistische Revolution nicht erfolgreich im Kampf um die Alphabetisierung der breiten Volksmassen? Profitierte das Volk nicht von einem neuen Gesundheitswesen? Und gab es einen sowjetischen Feminismus?

Zentrale Figur in der Darstellung von Figes ist natürlich Stalin. Der Autor beleuchtet dessen Rolle im Großen Vaterländischen Krieg gegen Nazideutschland sehr kritisch, verweist auf politische und militärische Irrtümer. Wenn er jedoch schreibt, »der Zahl der Menschenleben, die das stalinistische Regime für seine strategischen Ziele zu opfern bereit war, war kaum eine Grenze gesetzt«, fragt sich der Leser, wie Figes die Opfer der westalliierten Bombardements von Dresden oder Hiroshima wertet. Gewiss, das kann man nicht gegeneinander aufwiegen, aber der Ton westlicher Gewissheit ist zu laut.

Leiser ist der Autor, wenn er die Abwehrkämpfe der jungen Sowjetmacht gegen die kapitalistischen Interventen beschreibt. Was war die Rechtfertigung für diese letztlich gescheiterten Einmischungen in die inneren Angelegenheiten des sich neu definierenden Staates? Figes bringt auf den Punkt, worum es 1917, im dritten Jahr des Ersten Weltkrieges, ging: »Die Politik von 1917 war im Wesentlichen eine zwischen den Linken, welche die Revolution als Mittel zur Beendigung des Krieges betrachteten, und den Rechten, die den Krieg als Mittel zur Beendigung der Revolution ansahen.«

Alles in allem eine interessantes Buch, das jedoch kein Schlüssel zum Verständnis der russischen Gegenwart bietet. Man kann ein Land nicht »verstehen«, wenn man nur ein Säculum seiner Geschichte erzählt. Das trifft auch auf Deutschland, China oder Griechenland zu.

Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert. A. d. Engl. v. Bernd Rullkötter. Hanser, Berlin. 383 S., geb. 26 €.

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