«Man braucht viel Courage»

Immer mehr junge Menschen entscheiden sich für ein Studium in Russland. Nur die wenigsten kommen jedoch aus aus Nordamerika oder Westeuropa. Von René Jo. Laglstorfer , St. Petersburg

  • René Jo. Laglstorfer
  • Lesedauer: 4 Min.

Für jemanden aus dem Westen ist es hart in Russland zu studieren, man braucht viel Courage«, sagt Julia Shimf. Die 27-jährige Russin hat in der sibirischen Millionenstadt Omsk Kommunikation studiert und kennt das russische Bildungssystem genau: »Es ist berühmt dafür, dass es immer nur eine richtige Antwort gibt, vor allem wenn der Professor in der Sowjetzeit ausgebildet wurde. Ich finde, im Westen ist das anders: Studierenden wird beigebracht zu diskutieren, kritisch nachzudenken und zu argumentieren.« Aus diesem Grund hat sie sich entschieden, ein englischsprachiges Doppelmaster-Programm in Berlin und St. Petersburg zu absolvieren - trotz der aktuellen Kälteperiode zwischen Europa und Russland.

Einer ihrer Kollegen im Studiengang »Globale Kommunikation und Internationaler Journalismus« an der Freien Universität Berlin sowie an der Staatlichen Universität von St. Petersburg ist Andreas Rossbach aus Bayern. Der 26-jährige wurde in St. Petersburg geboren. »Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Meine erste Sprache, die ich lernte, war Russisch. Mein deutscher Vater arbeitete immer viel und meine russische Mutter war bei mir zu Hause«, erzählt der Deutsch-Russe von seiner Kindheit. Obwohl Rossbach mit der russischen Sprache aufgewachsen ist, könnte er sich nicht vorstellen, ein Vollzeitstudium auf Russisch zu absolvieren. »Ich bin nie in Russland zur Schule gegangen und die russische Sprache ist eine der schwierigsten der Welt.«

Laut einer Studie der UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) zieht es seit 2008 jedes Jahr etwa 1300 junge Menschen aus dem Westen für ein Studium nach Russland. Aber schreckt wirklich nur die schwere Sprache ab in Russland zu studieren?

»Viele westliche Universitäten haben eine viel höhere Qualität, was die Ausbildung anbelangt. Deshalb kommen relativ wenige Menschen aus dem Westen zum Studium nach Russland«, sagt Mikhail Bonovsky. Der 24-Jährige hat einen ukrainischen Vater und eine russische Mutter und ist ab dem zwölften Lebensjahr in den USA aufgewachsen. »Russland zieht eine Menge Studenten aus den früheren Sowjetrepubliken an, wie zum Beispiel aus der Ukraine, Kasachstan und Weißrussland. Sie machen den Großteil der ausländischen Studierenden in Russland aus«, sagt der amerikanische Bildungsexperte mit russisch-ukrainischen Wurzeln.

Tatsächlich kommen knapp 100 000 Studierende in Russland aus Zentralasien und Osteuropa, das sind rund 73 Prozent aller ausländischen Studenten. Für viele Menschen aus Asien, den Ex-Sowjetrepubliken, aber auch aus Afrika bedeutet ein russischer Studienabschluss ein viel höheres Prestige als eine heimische Ausbildung. Mehr als drei Mal so viele Afrikaner wie Westeuropäer und Nordamerikaner kommen laut UNESCO für ein Studium nach Russland. Das bestätigt auch die Afro-Russin Nicole Ousmanova: »Ein Diplom aus einem ›weißen Land‹ ist in Afrika einfach mehr wert und erhöht die Chancen einen Job zu finden«, sagt die 22-Jährige, deren togolesischer Vater einst selbst mit einem Stipendium an die Moskauer Universität für Völkerfreundschaft kam, wo er Ousmanovas Mutter kennenlernte und wo bis heute Menschen aus mehr als 140 verschiedenen Nationen studieren.

In Russland geboren, aber in Togo aufgewachsen, entschied sich Ousmanova, nach einem Bachelor an der Pariser Sorbonne für ihren Master in das Heimatland ihrer Mutter zurückzukehren. »In Togo bin ich ›die Weiße‹. In Russland werde ich wegen meiner hellbraunen Haut als schwarze Ausländerin angesehen, obwohl ich fließend Russisch spreche und eben auch Russin bin.« Dennoch findet sie, dass die meisten russischen Studenten Ausländern offen und hilfsbereit gegenüberstehen. Diese Einschätzung teilt auch ihre deutsche Studienkollegin an der Staatlichen Universität von St. Petersburg, Maria Thiele aus Berlin: »Die Atmosphäre hier ist sehr positiv gegenüber uns westlichen Studierenden. Es ist sehr viel Neugierde da auf Seiten der russischen Kommilitonen. Berührungsängste oder Vorurteile sind mir nicht begegnet«, sagt die 27-Jährige, die in der DDR geboren wurde und schon lange mit dem Gedanken gespielt hat, für ein Studium nach Russland zu gehen, »weil meine Vergangenheit mit diesem Land verbunden ist«.

Für den Deutsch-Russen Rossbach ist die Stimmung in Russland gegenüber Leuten aus dem Westen zweigeteilt: Einerseits sei Interesse und Neugierde da. »Andererseits erntet man auch Verwunderung und Unverständnis, warum man als ›Westler‹ ausgerechnet nach Russland zum Studieren geht, wo doch viele Russen nach Nordamerika oder Westeuropa wollen.« Denn so wie für Bonovsky kann auch für Rossbach das russische Bildungssystem nicht mit westlichen Standards mithalten: »Die Ausnahmen sind einzelne Zweige, wie zum Beispiel die Naturwissenschaften - also Mathematik, Physik, Chemie etc. - sowie auch Musik-, Theater- und Kunstwissenschaften. Das sind die Stärken des russischen Hochschulsystems.«

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