Werbung

Drei unschlagbare Schwestern

Schon vor 1190 Jahren kürte Kalif al-Ma’mun Schachgroßmeister

  • René Gralla
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie sich europäische Künstler Shatranj im Harem vorstellten.
Wie sich europäische Künstler Shatranj im Harem vorstellten.

Die Mitglieder dieser Familie hatten stets eine Antenne dafür, dem Leben die angenehmen Seiten abzugewinnen, in beinahe jeder Situation. Und sei es das politische Tagesgeschäft: Sein Vater, der Kalif Harun ar-Raschid, fand sogar in einem 802 geführten Briefwechsel mit dem byzantinischen Kaiser Nikephoros I. die Gelegenheit, neben dem Austausch diplomatischer Floskeln von den Vorzügen einer neu verpflichteten Dienerin zu schwärmen. Das junge Mädchen sei nicht nur höchst attraktiv, sondern könne überdies ausgezeichnet Schach spielen.

Auch der Sohn des Märchenkalifen, Abdallah al-Ma’mun, war den schönen Dingen zugetan. Nach Harun ar-Raschids Tod 809 und gewonnenem Machtkampf gegen den Bruder und schärfsten Konkurrenten al-Amin wurde al-Ma’mun ab 813 von allen Gläubigen als unbestrittener Kalif anerkannt. Und der baute Bagdad zur Kulturhauptstadt der damaligen islamischen Welt aus. Er gründete eine Akademie, das Haus der Weisheit, und ließ griechische Werke übersetzen, vor allem zu medizinischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Fragen. Außerdem förderte al-Ma’mun den Schachsport: Schon 819 begann er, das Denkspiel zu professionalisieren, indem er die seinerzeit vier Besten am Brett in den Rang von »Aliyat« erhob.

Der Titel Großmeister, die sinngemäße Übersetzung von »Aliyat«, ist demnach viel älter als bisher angenommen. Einige Fachautoren gerade in der Gegenwart haben die Erfindung der GM-Würde deutlich später angesetzt. Sie sehen den Zaren Nikolaus II. als Initiator, der 1914 die fünf stärksten Kandidaten im Turnier zu St. Petersburg entsprechend ausgezeichnet habe. Tatsächlich aber muss dem letzten russischen Kaiser, dessen übrige Agenda aus den bekannten historischen Gründen ohnehin mehr als zweifelhaft ist, auch dieses Verdienst posthum aberkannt werden.

2009 feiern wir folglich nicht schlappe 95 Jahre, die uns eine euro-zentristische Sichtweise suggeriert hat, sondern stolze 1190 Jahre Großmeister im Schach.

Das ist ein passender Anlass, sich auf die Ursprünge des 64-Felder-Spiels zu besinnen. »Shatranj«, so nannten es die Araber, wurde im Wesentlichen nach denselben Regeln wie heute ausgetragen, mit zwei wichtigen Ausnahmen: Anstelle einer Dame stand dem König ein Wesir zur Seite, der sich gravitätisch pro Schlagwechsel jeweils um einen Schritt über die Diagonalen bewegte, und die Plätze der Läufer nahmen Elefanten ein. Diese Figuren verfügten über die überraschend sportliche Fähigkeit, auf den für sie reservierten Schrägen in das zweite Feld vom konkreten Ausgangspunkt entweder ziehen oder nach Bedarf auch hüpfen zu können.

Diese zwei Besonderheiten des Shatranj sind rasch gelernt, und danach beginnt eine Zeitreise zurück in Bagdads Goldene Epoche. Schließlich boomte seit dem Kalifat von al-Ma’mun der Schachsport im Orient. Stars der Mattkunst schrieben Bücher über Strategie und Taktik und komponierten kunstvolle Probleme, die Mansuben. Gefeierte Theoretiker und Autoren waren al-Adli (um 800 – um 870), ar-Razi (ca. 825 – ca. 860) und al-Suli (ungefähr 880 – 946). Vom Meister Muhammed ben Sirin wird berichtet, dass er bis zu drei Partien gleichzeitig blind spielen konnte. Und auch die Frauen waren keineswegs vom Shatranj ausgeschlossen. Die Quellen nennen die Schwestern Safi’a, A’isha und ’Ubaida, die drei Enkelinnen eines Hisham ben Urwa, die den meisten Männern überlegen waren.

So hilft die Wiederentdeckung des Shatranj, nebenbei manche Stereotypen über die Kultur des Islam auszuräumen. Und nebenbei ist das Shatranj auch ein äußerst menschenfreundliches Schach: Da es weder rabiate Dame und noch hektische Läufer kennt, sind Überfallangriffe im Schäferstil ausgeschlossen. Selbst der Anfänger hält mit einem Meister eine anständige Zahl von Zügen mit, bevor er die Kapitulation erklären muss. Niemand verliert sein Gesicht, nach dem weisen Konzept des Shatranj.


Shatranj selbst gebaut

  • Basis ist ein handelsübliches Schachspiel.
  • Für die beiden Wesire, die statt der Damen den Königen zur Seite stehen, hole ich mir auf dem Flohmarkt zwei Bauern. Denen klebe ich die Deckel von Trinkflaschen auf, pinsele die Kappen schwarz bzw. weiß. Wesire haben nur eine Reichweite in ihr angrenzendes diagonales Nachbarfeld.
  • Kleine Elefanten, die arabische Version der Läufer, findet man in asiatischen Lebensmittel- und Geschenkeshops. Elefanten erreichen, gerechnet von der gerade eingenommenen Position im Match, das zweite Feld auf ihrer Schräge, aber das notfalls auch im Sprung über eigene oder fremde Steine.
  • Als Spielfläche ist ein normales Schachbrett ausreichend, allerdings ist es einfarbig zu gestalten.
  • Shatranj kennt weder einleitenden Doppelschritt der Bauern noch Rochade. Erreichen die Fußsoldaten dann die gegnerische Grundreihe, werden sie in Wesire umgewandelt. reg
Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal