Venedigs Rätsel

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Belichtung. Wenn man das Wort mit Befremdung ausspricht, erschließt sich sein Sinn auf besondere Weise. Es ist ein Schöpfungsvorgang. Wie Bebauung, Bepflanzung, Benetzung, Belebung. Belichtung: Es wird da, fotografierend, etwas mit einem Leuchten versehen, das es so bislang nicht gab.

Christopher Thomas, der Münchner, hat Venedig erfunden, mit einer Großfilmkamera, Polaroidmaterial, Stativ, dunklem Samttuch, wie ein Fotograf früherer Zeiten. Jedem Bild gingen lange beobachtende Umkreisungen voraus, Berechnungen - die Erschaffung dieser Bildwelten erfolgte nach präzisen Plänen eines Geistes, der vorm Akt langer Belichtungen im Kopf exakt Detail für Detail konstruierte, gleichsam vorausbildete, was dann Bild werden würde. Die Wirklichkeit als Produkt einer Vision. So entstand ein wunderschöner Fotoband, »Venedig. Die Unsichtbare«.

Brecht prophezeite leere Städte, von denen bleibt, der durch sie hindurchging: der Wind. Hier ist zu künden von einer Stadt, deren Leere äußerst eindrücklich bleibt, weil er durch sie hindurchging: dieser Fotograf. Er hat an den Schwellen zu Dämmerungen aller Art die Seele, das Wesen Venedigs porträtiert und just mit totaler Menschenlosigkeit die höchste, eine heilige wie gespenstische Lebendigkeit hervorgerufen.

Der venezianische Architekt Antonio Foscari schreibt über die Bilder von Thomas: »In einer Stadt, die sich ihm als Rätsel präsentiert, will er sich in seiner beinahe verstohlen gelebten Einsamkeit behaupten. Er isoliert sich von jener Wirklichkeit, die er dann wieder einfängt.« Herausgeberin Ira Stehmann zitiert Botho Strauß: Venedig als »Schauhof der Geschichte«, dessen Stein, dessen Tagesfinsternisse und dessen Nachtschein den langen Atem der Jahrhunderte aufruft. Der ein kühler Hauch ist über den Plastern und Dächern, in den Kanälen und Gassen. Majestätische Weichzeichnung wechselt mit hartem Schattenspruch der Gemäuer.

Aus dem Dunst der Lagunen steigt immer wieder jene entfremdete Existenz, die keine noch so neu sich gebärdende Zeit je mindern oder mildern konnte. Was immer der Blick sich in diesem Buch an Schönheit antun darf, es schlägt ihn zugleich ins Unheimliche zurück.

Zu ausgewählten Fotos stehen Gedichte eines der bezwingenden Poeten der Gegenwart, Albert Ostermaier. Er gibt den Bildern den Menschen bei. Dieser Mensch, versehrt durch Liebe, am Leben beteiligt durch deren Verlust, steht mit beiden Füßen fest auf dem rutschigen Bodes eines mysteriösen Niemandslandes. Immer zum Greifen, zum Fühlen nah: Architekturen, die dringend raten, sich loszusagen von der Illusion Heimat noch die ordnungsgemäße Welt kann von Abgründen nicht bereinigt werden. Wir erforschen sichtbare Welt, um von tausend geheimnisumwitterten Welten zu träumen - aber wer den Traum sehen will, zerstört ihn. Das erzählt auch der Tourismus, der sich über Venedig ergießt.

Ein Buch der zärtlichen Bitterkeiten, auf dessen Fotos, in dessen Gedichten immer irgend ein Schmerz darum bittet, nicht nachlassen zu müssen.

Christopher Thomas: Venedig. Die Unsichtbare. Mit Gedichten von Albert Ostermaier. Prestel Verlag München. 160 S., Leinen, 39,95 Euro


die nacht sinkt nieder und

wir sollten uns verlassen wie

vielfach dämmerung mag

noch in unsre venen passen

wann können wir uns lassen

ohne uns anzufassen es fassen

das rote violett den abschied

unter jedem lid ein bild

ein pinsel der kreise zieht

ein tropfen der ins wasser

fällt eine träne die den kanal

am fliessen hält.

Albert Ostermaier

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