Paranoia?

Mark Lombardi - Kunst und Konspiration

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 3 Min.

Aus der Ferne sehen sie aus wie Wolken. Diese Art Blick auf die Pfeilsysteme des Mark Lombardi wäre ein originär ästhetischer. Aber Lombardi, der sich 2000 das Leben nahm, fühlte sich als Rechercheur im Reich der Vernetzungen von Macht und Geld, um nicht von Filz zu sprechen. Ein Ermittler, wie man ihn sich auch bei Polizei oder Geheimdienst vorstellen kann: immer Informationen sammelnd und diese penibel archivierend. Wozu?

Da zeigt sich jemand davon fasziniert, Zusammenhänge herzustellen. Weist jede Information nicht bereits wieder auf eine andere hin? Und Lombardi notierte das, was er in Zeitungen und Büchern las, auf vielen tausend Karteikarten und begann schließlich mit seinem großen Projekt der Visualisierung der Informationsflut. »Narrative Structures«, so lautet das, was sich auf großen Karten als ein einzigartiges Pfeilsystem wiederfand. Von diesem Namen geht ein Pfeil zu jenem. Von diesem Ort zu jenem. So werden Zusammenhänge sichtbar, und erstaunt stellt man fest, wessen Name da plötzlich eine Ballung von Pfeilen auslöst. Wer wendet sich wann an wen? Wann taucht Osama bin Laden das erste Mal im Zusammenhang mit George Bush jun. auf?

Lombardi zeichnete die Seekarten der beginnenden Informationsgesellschaft. Eine Topografie von Mensch und Ereignis in Bezug auf das, was man von ihrem Zusammentreffen wissen kann. Ist das nun eine besonders radikale Form von Aufklärung oder das Gegenteil davon - pure Paranoia, der Nebel des Faktischen, der den Blick trübt?

Schwer zu sagen, zumindest ist es eine Form der Grafik, die unseren unübersichtlichen Alltag anschaubar machen will - so dass die Hintergründe von Ereignissen sichtbar werden. Dokumentarkunst mit Rechercheauftrag in eigener Sache. So könnte man es nennen. Aber was ist das für ein Mensch, für den jede Begegnung letztlich in einem Pfeil endet? Und was sagt dieser über die Natur dieser Begegnung aus? Nichts. Da zeigt sich die Grenze der grafischen Wissens-Sammlungsmethode Lombardis. Dieser von ihm im höheren Auftag der Kunst betriebene Nachrichtendienst hantiert - wie alle anderen Nachrichtendienste der Welt auch - mit lauter Informationen, die ein einziges Gestrüpp ergeben. Wer aber urteilen will über die Natur bestimmter Ereignisse, der muss irgendwann seinen Blick von den Diagrammen lösen.

Wie entsteht ein wesentliches Urteil über die Vielzahl der Phänomene? Irgendwann muss man springen, vom bloßen Sammeln von Informationen zum Denken, zum Verstehen. Lombardi versuchte mit einer Linien-Struktur das bloß Quantitative der Information zu überwinden. Doch dem neuen Netz, dem Internet, in dem sich alles sammelt und in dem auch alles wieder spurlos verloren gehen kann, stand der Karteikartensammler und Pfeilzeichner wie der Bewohner eines untergegangen Kontinents gegenüber. Die digitale Welt des Zugleich aller Realitäts- und Zeitebenen muss dieses Sammelfossil eines analogen Zeitalters tief erschreckt haben. Doch der Mensch Lombardi, die Antriebe seiner obsessiven Informationssammelwut, bleiben auch nach diesem sorgfältigen filmischen Annäherungsversuch der jungen Regisseurin Mareike Wegener weiter im Dunkeln.

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