Keine Torte

Die Linkspartei hat Geburtstag. Wie ist das, wenn man noch erwachsen werden muss? Im Selbstgespräch mit einer Zehnjährigen

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 10 Min.

Kindergeburtstag

Wie redet man mit einer Zehnjährigen? Steht da so vor einem an ihrem Geburtstag, zappelt herum, ist irgendwie stolz auf das, was hinter ihr liegt und ein Teil von ihr blickt noch ungebrochen hoffnungsfroh in die Zukunft. Die Zeit der Warum-Fragen ist vorbei, die Phase des Fußaufstampfens noch nicht. Die Verwandtschaft hat sich versammelt, entfernte Onkels aus dem Westen geben Ratschläge, die sie für besonders klug halten. Tanten aus dem Osten tätscheln die Wange und sagen Sätze wie: Das wird schon noch, du bist ja bald groß. Die älteren Geschwister stehen eifersüchtig daneben, sie waren doch länger da und nun guckt keiner mehr auf sie, so gemein! Wie fühlt sich da eine Zehnjährige, die doch alles richtig gemacht haben will? Die aber nicht alles richtig gemacht hat. Die wohl auch ahnt, was schiefgelaufen sein könnte. Weil sie mitbekommt, wie andere auf dem Spielplatz reagieren. Wenn sie nicht Gummihopse mitspielen darf, sondern nur Brennball. Wenn ihr die Leute sagen, benimm dich doch nicht so. Und die darauf dann so reagiert wie eine Zehnjährige. Also: Wie redet man mit ihr?

Die Jungen, die Alten

Als die Partei, die nun zehn Jahre alt wird, noch nicht ganz zu Ende gegründet war, sagte Hans Modrow einmal: »Die Jungen denken wohl, sie seien schon die Alten.« Er meinte keine Zehnjährigen, aber in dem Satz steckten drei Gedanken: erstens eine Warnung, im Eifer der Fusion nicht frühere Positionen über Bord zu werfen; zweitens Kritik an einer neuen Generation von Politikern, die nun Geschichte machten und damit in den Schatten stellten, was bisher als historische Leistung galt: die Erfolge von einst. Und drittens schließlich steht dieser Satz von den Alten und den Jungen beispielhaft für eine linke Leerstelle: Es fehlt so etwas wie eine praktische Theorie der Zeit, eine übergeordnete Leitidee, dass sich nämlich die Dinge ändern, dass man darauf reagieren muss, dass es nicht weiterhilft, die Antworten von vorgestern zu verteidigen. Es ist die Wahl zwischen Konservieren und Fortschritt. Die Leerstelle ist umso größer, je mehr das Ideologische geschätzt und das Wissenschaftliche übersehen wird: Zum Wesen des Wissenschaftlichen gehört die Überwindung einmal erreichten Wissens. Das heißt ja nicht, etwas bloß zu überwinden, zu negieren. Sondern eben das, was Hegel einst meinte: es aufzuheben. Also das Wertvolle erhalten, das Negative wegstreichen und so den Widerspruch dazwischen überwinden. Je selbstbewusster man sich diesem Prozesshaften auch in der Politik öffnet, desto glaubwürdiger ist, was dabei dann an Gedanken, an Forderungen herauskommt. Wo das Etikett »Bewahrt bloß um des Bewahrens Willen« draufpappt, wird die Nachfrage nicht wachsen. Schon aus demografischen Gründen: Die Jungen wissen nämlich, dass sie länger da sein werden als die Alten. Und weil die Jungen von damals nun langsam tatsächlich selbst die Alten sind.

Hebel

Physik haben Zehnjährige normalerweise noch nicht als Schulfach, umso hilfreicher könnte dieser Hinweis sein: Je nachdem, wie groß der Hebelarm ist, kann auch mit einer kleinen Kraft ein großes Drehmoment ausgeübt werden. »Gebt mir einen festen Punkt im All«, lautet der Rat von Archimedes, »und ich werde die Welt aus den Angeln heben.« Anders gesprochen: Wer linke Politik unter ungünstigen Bedingungen machen will, muss sich mehr darüber Gedanken machen, wo er große Hebel ansetzen kann, um trotz geringen Eigengewichts mehr zu bewirken als man je mit dem gern geäußerten Hinweis erreichen wird, solange Kapitalismus herrscht, werde sich ja doch nichts Wesentliches ändern. Zwischen dem Glauben, man könne »den Schalter umlegen«, und danach werde sozialistisches Licht, und dem Wissen, dass auch in der Politik der Betrag des Drehmoments sich proportional zum Hebelarm verhält, es also darauf ankommt, wie und wo man ansetzt, um Veränderungen in Gang zu bringen, deren historische Tendenz über ihr vorläufiges Ergebnis hinausweist, liegt ein gewaltiger Unterschied. Sich für die Physik als Vorbild der Politik zu entscheiden, hat zwei Vorteile: Man agiert im stets überprüfbaren Anwendungsbereich, ist also nicht auf Glaubenssätze angewiesen. Und: Es wird leichter, mit dialektischer Gelassenheit die eigene Schwäche zu ertragen, weil man um die Möglichkeit der Hebelwirkung weiß. Man kann das auch Friedrich Engels sagen lassen: »Die deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und damit der Klassenunterschiede vermittelst Durchführung der genossenschaftlichen Produktion in Industrie und Ackerbau«, schrieb der 1875 an August Bebel. Was davon heute noch aktuell wäre, ist das eine. Das Entscheidende ist der nächste Halbsatz: »Sie tritt ein für jede Maßregel, welche geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen.« Genau: Hauptsache, der Spalt in der Tür wird breiter.

Demut

Können Zehnjährige schon etwas mit dem Begriff Demut anfangen? Nicht so sehr gemeint als die Gesinnung der Dienenden oder das Begreifen der eigenen Unvollkommenheit vor dem Höheren, Unerreichbaren. Sondern verstanden als Maß der Selbstbetrachtung, die um das Problem weiß, das mit dem Satz ausgesprochen wird: »Allein wir vertreten wirklich die Interessen der Mehrheit.« Kann schon sein, wenn man diese Interessen für etwas objektiv Existierendes aus einer Weltanschauung ableitet. Dann klingt es aber, solange man auf Zustimmungsraten von um die zehn Prozent blickt, immer auch ein wenig wie ein Vorwurf: Wann begreift ihr Wähler das endlich? Ja, die Linkspartei muss sich mit unfreundlichen Bedingungen herumplagen, die dieses »Begreifen« erschweren mögen, weil der Blick auf die Ziele dieser Partei von dem Bild beeinflusst wird, das andere von ihr malen. Wer grundlegende Veränderungen anstrebt, die an Eigentumsverfügung gekoppelte Privilegien abschaffen würden, sollte sich über Widerstand nicht beklagen. Erich Fromm hat Demut einmal als eine Haltung bezeichnet, die Vernunft und Objektivität entspricht und Voraussetzung zur Überwindung von Narzissmus ist. Auf die Politik übertragen: Weniger Ich-Bezogenheit könnte mehr Interesse an den anderen bedeuten. Vielleicht sogar an der Mehrheit, der bunten.

Deng Xiaoping

Wenn eine Zehnjährige sagt, die Welt da draußen werde immer schlimmer, würde man sie fragen: Was genau meinst du? Sie würde dann von der Mitschülerin erzählen, die zu arm ist, um mit zur Klassenfahrt zu fahren. Ja, würde man sagen, du darfst niemals die Beschissenheit der Dinge als normal akzeptieren, niemals über Unrecht hinwegsehen, so klein es ist. Du solltest dich aber immer auch fragen, wie die Lage von einem anderen Standpunkt aus eingeschätzt werden könnte. Ist eine Welt immer schlimmer geworden, in der immer mehr Menschen Zugang zu Bildung haben, die Kindersterblichkeit drastisch gesunken ist, die Zahl der zivilen Kriegstoten zurückgeht? Und ist, wer das in Betracht zieht, wirklich ein Beschöniger, denn es bleibt ja auch wahr, dass die Ungleichheit zwischen den Ärmeren und den Reichen hierzulande größer geworden ist? Was bringt die Leute hierzulande dazu, in so großer Zahl ihre eigene Lage als gut zu bezeichnen? Ist es wirklich nur »notwendig falsches Bewusstsein«? Deng Xiaoping, der als Reformer in die Geschichte des chinesischen Staatskapitalismus eingegangen ist, hat 1978 eine Rede gehalten, die den Titel trug: »Den Geist emanzipieren, die Wahrheit in den Fakten suchen und vereint in die Zukunft blicken.« Wie man das heute verstehen könnte: Erstens, die Wirklichkeit ist nicht als Abbild der Vorstellungen zu verstehen, die man schon von ihr hatte, bevor man auf sie blickte. Und zweitens, wer sich Vorstellungen von einer besseren Zukunft macht, sollte auch ehrlich bilanzieren, was in der Vergangenheit bereits wirklich verändert wurde, wie und von wem, wo dies nicht weit genug ging und was man daraus lernen kann. Wie hieß noch der beliebte Satz? Es war nicht alles schlecht.

Erfolge

Eine Zehnjährige kennt die bundesdeutsche Welt nur als eine mit Hartz IV. Kommt sie aus einer linken Familie, wird ihr der Begriff Sozialpolitik im Ohr klingen wie eine Erfindung von Lord Voldemort. Man sollte ihr deshalb Michael Brumlik vorlesen, der Anfang dieses Jahres schrieb: »So aber scheint die Einsicht unabweisbar, dass der auf einer kapitalistischen Wirtschaft beruhende (europäische) demokratische Sozialstaat das Beste ist, was die von Marx über Lenin bis Lukács zum revolutionären Subjekt erkorene Arbeiterschaft welthistorisch erreichen konnte und vielleicht überhaupt erreichen kann. Die Antwort einer aufgeklärten, liberalen, aber eben auch desillusionierten Linken kann daher nur darin bestehen, die Kritik am Kapitalismus aufrechtzuerhalten, freilich um die Einsicht bereichert, ›dass kein Kapitalismus auch keine Antwort ist‹ (Ulrike Hermann). Ansonsten wird der Kompass einer aufgeklärten Linken umso mehr das Prinzip der Würde des Menschen in politischer Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und versöhnter Verschiedenheit sein – und zwar weltweit.«

Kategorischer Imperativ

Warum bist du eigentlich links?, könnte eine Freundin unsere heute Zehnjährige irgendwann einmal fragen. Die würde vielleicht auf ihre Eltern verweisen, das wäre dann also aus Tradition. Sie könnte auch verschiedene Dinge aufzählen, die zu dulden es keine hinnehmbare Begründung gibt, Krieg zum Beispiel, Hunger, Umweltzerstörung. Das wäre berechtigte Empörung. Man würde daneben sitzen und sich fragen: Wie würde eigentlich meine Antwort ausfallen? Was ist die sozialethische Begründung politischen Handelns, das Verhältnisse umstürzen will, die ja immerhin von einer Mehrheit zumindest hierzulande mindestens akzeptiert werden? »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«, heißt es bei Kant. Hegel hat das als tautologisch kritisiert, Marx einen eigenen Kategorischen Imperativ geprägt, nämlich: »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, also eine Welt zu verwirklichen, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Aber was heißt das heute? Dass so ein Kategorischer Imperativ nur im globalen Maßstab gedacht werden kann, zum Beispiel wegen der Knappheit von Ressourcen. Das internationalisiert die Frage der Solidarität und der Ungleichheit und macht die Antworten nicht einfacher. Der Soziologe Stephan Lessenich drängt auf eine solche Perspektive, »dann wird man nämlich sehen, dass gerade die Menschen, die in unserer Gesellschaft schlechtergestellt sind, in einer doppeldeutigen Position sind, denn weltgesellschaftlich gesehen leben sie auf einem Reproduktionsniveau, das das von weiten Teilen der Gesellschaft erheblich überschreitet. Außerdem sind sie eben ›gefangen‹ in Strukturen, über die sie von den Ausbeutungsverhältnissen in der Welt profitieren.« Es sei »eben nicht damit getan, dass wir hierzulande zu einer Angleichung von Lebenslagen kommen, und dann wäre wieder alles in Ordnung, sondern wir müssen sehen, dass unser Reproduktionsniveau damit zusammenhängt, dass andere dieses Niveau gar nicht erreichen können«.

Maßstäbe

Noch eine Frage zum Geburtstag: Wozu sind Maßstäbe da? Es reicht nicht, vielleicht kann man es der Zehnjährigen so erklären, wütend zu werden, wenn die bösen Jungs jemanden verhauen. Wenn andere Jungs das Gleiche tun, wird dies nicht dadurch besser, dass sie mit den bösen Jungs verfeindet sind. Sie sind dann auch böse Jungs. Lieber mal eine Presseerklärung weniger zu Erdogans Diktatur und dafür mal eine mehr zur Repression in Russland. Es macht das Wütendsein authentischer. Und auch Marx meinte »alle Verhältnisse« mit seiner Kritik, nicht nur jene, die dort herrschen, wo es einem gerade in den Kram passt.

Volle Bäuche

Wenn eine Zehnjährige »Hunger« schreit, in Wahrheit aber nur Appetit hat und also dann einen dreiviertel Teller unaufgegessen stehen lässt, sollte man sich an Joseph A. Schumpeter erinnern. Der warnt in »Capitalism, socialism and democracy« davor, zu vergessen, »dass der Sozialismus nach höheren Zielen als vollen Bäuchen strebt«. In unserem Fall geht es um die Freiheit, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu essen. Niemand, der einigermaßen bei Verstand ist, wird deshalb gleich fordern, die »materiellen Interessen« links liegen zu lassen. Zum Verstand gehört aber auch, sie nicht als Primat der eigenen Politik gegen das auszuspielen, was das Leben schön, erträglich, gestaltbar macht: knutschen mit wem und wo man will; sich rechtsstaatlich gewährt beim Staat beschweren dürfen, der die Schwachen schützen kann, ebenso aber Mittel in der Hand hat, sie zu knechten; und wählen zu können, nicht nur den Zeitpunkt eines Essens, sondern auch die Möglichkeit, nicht zur Wahl gehen zu müssen. Oder eben doch.

Es Pee Dee

Was also kann man einer Zehnjährigen zum Geburtstag schon sagen? Was kommt für sie dabei heraus? Das hängt vielleicht davon ab, ob man in Betracht zieht, dass ja auch noch weitere zehn Jahre kommen könnten. Warten wir sie ab, danach reden wir wieder. Nur noch ganz kurz, zum Schluss: Die SPD ist einfach nur eine andere Partei. Man muss nicht jeden Tag über sie reden. Tritt aus ihrem Schatten, du bist jetzt alt genug.

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