Hörsaal und Werkhalle

Im Aufbruch von 1968 fanden politisierte junge Gewerkschafter und linke Studenten zusammen

  • Harald Werner
  • Lesedauer: 6 Min.

50 Jahre nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke und den anschließenden Unruhen dürften die meisten Menschen sich vor allem an Bilder mit brennenden Springer-Lieferwagen und knüppelnde Polizeiketten erinnern. Dass sich hinter der 68er Rebellion mehr verbarg, nämlich ein Wendepunkt in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, zeigt nicht nur die AfD, wenn sie sich als »konservative Konterrevolution gegen 68« bezeichnet, sondern auch Alexander Dobrindt, der bereits eine »konservative Revolution der Bürger« gegen die »linke Revolution der Eliten« ankündigte.

War 1968 also eine »linke Revolution«? - Und wenn ja, wer war das revolutionäre Subjekt? Der Sozialistische Studentenbund SDS, der zur Zeit der Schüsse auf Rudi Dutschke in Westberlin gerade mal 300 Mitglieder zählte, kann es allein wohl nicht gewesen sein.

Harald Werner
Harald Werner, Jahrgang 1940, lernte in Westberlin Stahlbauschlosser, wurde Journalist und Gewerkschafter, war aktiv in der 68er Bewegung. Er promovierte in den Sozialwissenschaften und war in den 90er Jahren gewerkschaftspolitischer Sprecher der PDS. Heute ist er Beauftragter des LINKE-Vorstands für politische Bildung. Sein Artikel beruht auf einem Vortrag, den er an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg gehalten hat.

Es war auch nicht allein die Studentenbewegung, sondern die eigentliche Ursache der Rebellion waren die gesellschaftlichen Umbrüche am Ende der 1950er und in den 1960er Jahren, die von einer Dynamik geprägt waren, die der Soziologe Pierre Bourdieu als »Öffnung des sozialen Raumes« bezeichnete. Andere sprachen von einem Fahrstuhleffekt, durch den Millionen Kinder aus Arbeiterfamilien Abitur machten und als Erste ihrer Familie an die Unis kamen. Hinzu kam der so genannte Sputnik-Schock, als ausgerechnet die Sowjetunion schneller und erfolgreicher im Weltraum war als die USA.

Der Schock löste eine Reformdebatte aus, die das gesamte westliche Bildungssystem auf den Prüfstand stellte. In der BRD entfaltete sich eine alle Bereiche, von der Vorschulerziehung bis zur Universität, erfassende Reformdebatte. Und die erfasste nicht nur Studenten. Schüler lehnten sich gegen das Verbot kritischer Schulzeitungen auf, Eltern organisierten antiautoritäre Kinderläden und Lehrlinge enthüllten in eigenen Betriebszeitungen, wieviel die Unternehmen an Lehrlingen verdienten.

Gleichzeitig muss man sich daran erinnern, dass sich der Adenauer-Staat nicht nur durch erstarrte autoritäre Strukturen auszeichnete und bis in die Spitze von ehemaligen Nazis dominiert wurde, sondern auch den Besitz von Atomwaffen anstrebte und durch die Notstandsgesetze das Grundgesetz aushöhlen wollte. Die außerparlamentarische Opposition gegen die Wiederbewaffnung, der Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung und die Springer-Presse waren auch keine Domäne der Studentenbewegung, sondern markierten den Aufbruch einer ganzen Generation, die zunächst antiautoritär war, bis sie mehrheitlich nach links tendierte.

Man las viel und diskutierte noch mehr, doch die sozial wie politisch höchst heterogene Bewegung wurde anfangs mehr von Emotionen als von Theorien bestimmt. Man orientierte sich an Metaphern wie der universellen Forderung nach Emanzipation oder dem allgemeinen Kampf gegen das Establishment, weshalb der Soziologe Heinz Bude in seinem jüngsten Buch ironisch schreibt: »Es war wie in der Oper. Sie verstanden nichts, konnten aber alles mitsingen.«

In diesen Jahren verzeichneten alle Gewerkschaften einen drastischen Gewinn an jungen Mitgliedern, die sich allerdings weniger für Tarif- und Arbeitsrecht interessierten als für Fragen der Mitbestimmung und das politische Engagement der Gewerkschaften. Zum Beispiel gegen die Wiederbewaffnung, für Formen der Wirtschaftsdemokratie und gegen die Einschränkung von Grundrechten durch die Notstandsgesetzgebung. Und natürlich verwandelten sich bei solcher Schwerpunktsetzung die Mitgliederversammlungen der Gewerkschaftsjugend in Bildungsveranstaltungen, was die Nachfrage nach Referenten erheblich erhöhte und die Bildungsausgaben der Gewerkschaften kräftig steigen ließ.

Diese Politisierung der Gewerkschaftsjugend mündete zwangsläufig in eine Kooperation mit linken Studierenden, die in der Arbeiterbildung eine gelungene Verbindung von Theorie und Praxis entdeckten. In Hessen gründete sich bereits 1957 eine Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen, die sich vor allem auf eines konzentrierte, nämlich die Unterstützung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Ein ähnliches Projekt entwickelte die IG Metall bei den Ford-Werken, wo sie betriebsnahe Arbeitskreise organisierte, in denen nach der Schicht einerseits die Arbeit der gewerkschaftlichen Vertrauensleute koordiniert, aber auch Bildungsbausteine durchgearbeitet wurden.

Dieses Wechselverhältnis von Studenten- und Gewerkschaftsbewegung lässt sich geradezu exemplarisch an meiner eigenen Biografie nachvollziehen. Ab 1955 lernte ich in Westberlin Stahlbauschlosser, wurde Mitglied der IG Metall, kaufte mir in Ostberlin das erste Mal »Das Kapital« - das mir der Westberliner Zoll übrigens abnahm - absolvierte meine Facharbeiterprüfung, arbeitete tagsüber bei Krupp, ließ mich abends zum Werbefachmann ausbilden, landete dann aber im Journalismus und wurde schließlich Leiter einer Außenredaktion der Nordwest Zeitung in Oldenburg.

Nachdem ich als Redakteur zur IG Druck und Papier gewechselt war, lag zum Beispiel der damalige Schwerpunkt unserer gewerkschaftlichen Arbeit zunächst nicht in der Tarifpolitik, sondern im Kampf um demokratische Redaktionsstatute. Das Statut bekamen wir nicht, ich aber die Kündigung, weil sich - und das wörtlich - meine linksradikalen Aktivitäten schädigend auf das Anzeigengeschäft auswirken könnten.

Sonderlich betrübt hat mich das nicht, weil ich neben der Redaktionsarbeit bereits ein Studium an der Pädagogischen Hochschule begonnen hatte. Obwohl ich noch Mitglied des sich gerade in Auflösung befindenden SDS wurde, blieb mein politischer Schwerpunkt die Gewerkschaftspolitik und das sollte sie auf ungeahnte Weise auch bleiben. Als auf der Grundlage der Pädagogischen Hochschule eine Universität gegründet werden sollte, wurde eine Art Gründungssenat gebildet, der souverän über die finanziellen Mittel der Gründung als auch über die inhaltliche Gestaltung der Universität entscheiden konnte.

Noch ungewöhnlicher war, dass der Gründungsausschuss drittelparitätisch besetzt wurde. Vier vom Kultusminister berufenen Professoren standen vier von der Studentenschaft gewählte Studenten und drei Assistentenvertreter gegenüber. Dieses Zugeständnis der Landesregierung zur Gründung einer Reformuniversität war natürlich ein Ergebnis der Studentenbewegung. Doch im Laufe des Planungsprozesses schälte sich immer stärker eine klare gewerkschaftliche Orientierung der Universität heraus. Und das vor allem deshalb, weil sich die Zweidrittelmehrheit der Studenten- und Assistentenvertreter bereits in der Studentenbewegung für gewerkschaftliche Forderungen eingesetzt hatte.

Nachdem ich in einer studentischen Vollversammlung in das Gründungsgremium gewählt worden war, wechselte ich nicht etwa von der Gewerkschafts- zur Hochschulpolitik, sondern zu einer von Gewerkschaftsinteressen bestimmten Wissenschaftspolitik. Das betraf einerseits die Planung der wissenschaftlichen Schwerpunkte und des Lehrangebots, spiegelte sich in der Berufung der Professoren wider, führte aber auch zu einer direkten Zusammenarbeit zwischen Reformuniversität und Gewerkschaften. Das anspruchsvollste Reformvorhaben aber war, mehr junge Gewerkschafter ohne Abitur an die Uni zu bringen.

Das war möglich, weil es in Niedersachsen eine Sonderbegabtenprüfung gab, die es Bewerbern ohne Abitur, aber mit abgeschlossener Berufsausbildung erlaubte, in einer Prüfung die allgemeine Hochschulreife zu erwerben. Das war nicht leicht und setzte auch wissenschaftliche Kenntnisse in einem ausgewählten Fach voraus, doch wir handelten mit dem Kultusministerium eine Lösung aus, die diese Hürde überwindbar machte. Für die Bewerber wurde eine Art Vorsemester eingeführt, in dem bereits berufene Wissenschaftler, aber auch Studierende der höheren Semester die Bewerber auf die Prüfung vorbereiteten. Hinzu kam, dass die Bewerber während der Vorbereitung Bafög erhielten und deshalb nicht auf Erwerbsarbeit angewiesen waren. Natürlich hatten wir verstärkt in der Gewerkschaftsjugend für die Teilnahme geworben, was sich dann in der Zusammensetzung des ersten Semesters nach Eröffnung des Studienbetriebes deutlich bemerkbar machte.

Es sollte nicht der letzte Erfolg unserer gewerkschaftlichen Orientierung bleiben. Die Universität, die nach langen Kämpfen dann endlich Carl-von-Ossietzky-Universität heißen durfte, war auch die erste Hochschule, die einen Kooperationsvertrag mit den Gewerkschaften schloss und eine Kooperationsstelle für Kontakte zwischen Universität und Gewerkschaften einrichtete. Natürlich hatten CDU und Unternehmerverbände diese Entwicklung über den gesamten Gründungsprozess zu stören versucht.

Den Höhepunkt bildete dann jedoch ein Vorhaben, das die Springer-Presse veranlasste, die neu gegründete Universität als »Universität von Vetters Gnaden« zu bezeichnen - nach dem damaligen DGB-Vorsitzenden Heinz Oskar Vetter. Noch vor dem Beginn des Studienbetriebs führte die Universität einen im Betriebsverfassungsgesetz vorgeschrieben einwöchigen Betriebsrätekurs durch.

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