»Mora, mora« - für alle Fälle

Entlang der Route Nationale, der Hauptverkehrsader, durch Madagaskar. Von Beate Schümann

  • Beate Schümann
  • Lesedauer: 7 Min.

Auf Madagaskar gibt es ein Zauberwort, das »mora, mora« heißt - immer mit der Ruhe. Es hilft in vielen Lebenslagen wie bei Hektik, Ungeduld und bei Dingen, die man ohnehin nicht ändern kann. »Mora, mora« braucht man unbedingt auch auf der Route Nationale. Denn wer die »Lemureninsel« im Indischen Ozean erkunden will, kommt um die zentrale Verkehrsader nicht herum. Auf dieser bewegt sich alles, was im zweitgrößten Inselstaat der Welt Beine und Räder hat. Auch jeder, der zu den Highlights des unentdeckten Nordens reist, den Tsingys, der Strandinsel Nosy Be und den Geistern der Ahnen.

Von Antsiranana an der Nordküste führt die RN 6 in den Südwesten. Vor der Unabhängigkeit von 1960 hieß die Hafenstadt Diego Suárez nach den Portugiesen, die das Land 1500 als erste Europäer betraten. Ihnen folgten Niederländer, Engländer und Ende des 19. Jahrhunderts die Franzosen, die an dem Eiland vor Mosambik wegen seiner Bodenschätze und der Gewürze wie Vanille, Zimt und Pfeffer am hartnäckigsten festhielten. »Unterwegs kannst du Affenbrotbäume zählen«, bereitet Fahrer Said auf die Fahrt vor: Man schafft nicht mehr als dreißig Kilometer pro Stunde. Der Widerspruch zwischen Armut und Reichtum wird gleich hier klar.

Die wichtigste Fern- und Handelsstraße stammt aus der französischen Kolonialzeit und hat in den letzten Jahrzehnten Patina angelegt. Schwere Lastwagen donnern über den Flickenteppich aus Asphalt, beladene Zebukarren arbeiten sich durch ausgewaschene Sandlöcher, Tuck-Tucks und Radfahrer trainieren Slalom. An diese Art des Reisens muss sich der Fremde gewöhnen. Aber Mietwagen für Selbstfahrer sind sowieso nicht sehr verbreitet. Touristen mieten einen Landcruiser mit Fahrer wie Said. »Ihr müsst unterwegs auf alles gefasst sein«, sagt er. Auch auf plötzlich querende Chamäleons. Sie sind vermutlich die langsamste Gattung, die auf der Nationalstraße anzutreffen ist.

Unweit von Antsiranana, wo sich die Küste formschön zur Baie de Diego mit ihren Sandstränden öffnet, lernen die Besucher auf einem Aussichtspunkt das erste »fady« kennen, ein Tabu, von denen es in Madagaskar nur so wimmelt. Vor ihnen steigt die Insel Nosy Lonja wie der Zuckerhut von Rio de Janeiro aus dem glitzernden Meer. »Der Berg ist heilig«, wissen Madegassen wie Harinesy Mananjaraniainat. Denn Gott Zanahary, der Schöpfer von Himmel und Erde, wohnt darin. Im Wasser sind watende Pilger zu sehen, die auf das Heiligtum zuhalten. »Nur solange sie stehen können«, sagt der Mann aus der Hauptstadt Antananarivo. Mehr Annäherung sei »fady« und das Betreten der Insel starkes »fady«. Gegen das Baden hätten die Götter aber nichts einzuwenden.

Endlos schaukelt der Wagen an Reisfeldern und Maniokanbau vorbei und durch kleine Dörfer. Die Bewohner winken den Fremden zu, die das arme Land dringend benötigt. Bislang kommen jährlich rund 250 000 Touristen. Die Wirtschaft liegt danieder wie die Route Nationale, das gebrochene Rückgrat des Landes. Said stoppt an einem Stand, an dem er Erfrischungen verkauft werden: Zitronensaft mit Salz und gesalztener Mangosaft.

Bei Sadjoavato biegt Said auf eine Sandpiste, die zu einem Naturwunder führt: die Tsingy Rouges, ein einzigartig zerklüftetes Gebiet aus bizarren Sandsteinnadeln, die sich über große Flächen ausbreiten. Das Lateritgestein changiert in Farben von Rot über Orange bis Magenta. Die Gebilde sind das Werk der Erosion von Jahrtausenden, die aber erst 2004 nach Waldrodungen bekannt wurden. Dem fast vertrockneten Flusslauf folgend, dringen die Besucher tief in den Canyon ein, sodass sie die faszinierenden Formationen und Skulpturen aus der Nähe sehen können. Nur auf vorgeschriebenen Wegen, denn die roten Tsingys sind extrem fragil. Wissenschaftler befürchten, sie könnten bereits in wenigen Jahren verschwunden sein.

Kurz darauf steht man vor der nächsten Attraktion, am Eingang zum Ankarana-Nationalpark. Er ist nur 182 Quadratkilometer groß, birgt aber auf kleinem Raum graue Tsingys aus scharfem Karstgestein, ein Höhlensystem von 114 Kilometern Länge, die Königsgräber des Volksstammes der Antakarana, zehn Lemuren- und 100 Vogelarten, skurrile Baobabbäume oder die Fledermausgrotte Chauves-Souris. Das Reservat darf man nur mit einem ausgebildeten Ranger betreten. Nambinintsoa Andrianarilandy begleitet die Tour Tsingy Meva durch den feucht-heißen Trockenwald. Papageien kreischen. Braune Lemuren huschen über dichtes Blattwerk. »Schattengeister«, nennt man sie auf Madagaskar, weil Natur und Mystik hier geheimnisvolle Weise in Einklang stehen.

Nach einem Abstieg über 160 Stufen in die steinige Unterwelt ist der Platz erreicht, an dem 1832 die Sakalava gegen die Merina-Krieger siegten. Seither ist er ein heiliger Wohnort der Ahnen. Ohne »fady« geht das nicht ab. »Hüte abnehmen, kein lautes Reden, nicht trinken, vor allem nicht singen«, sagt Nambin. Auch Kichererbsen, Schweinefleisch oder lebende Hühner darf man nicht mitnehmen. Verboten laut kreischen allerdings die Fledermäuse, als die Gruppe stumm durch die niedrigen Gänge und kantigen Winkel zur Opferstätte des historischen Kriegsschauplatzes schleicht: ein gespaltener Schädel, Geldscheine, Knochen und Münzen blinken im Licht der Taschenlampen. Viel interessanter findet der Ranger jedoch die Fledermäuse, die in den Höhlen in großer Zahl leben. Vierzehn Arten kennt er hier, die kleinste wiege vier Gramm.

Nosy Be ist wegen ihrer feinsandigen Strände als Ferieninsel zwar lange bekannt, steckt aber voller Geheimnisse. Beim Übersetzen vom Fährhafen Ankify fällt einem gleich das alte Matrosenlied vom Schiff ein, das vor Madagaskar im türkisblauen Wasser lag und die Pest an Bord hatte. Man kennt es als deutsches Volkslied. Madegassen erzählen aber, dass russische Soldaten es erfanden, als sie 1904 im Krieg gegen Japan hier vor Anker lagen - sie starben an Typhus.

Die schaurige Seemannsromantik ist auf der Ylang-Ylang-Farm im Südosten bald vergessen. Denn betörende Düfte schwirren durch den Park, die von den orchideenartigen Ylang-Ylang-Blüten ausgehen. In der Destillerie wird daraus Parfümöl gewonnen, das ins französische Parfümzentrum Grasse verkauft wird. Auch Chanel und Guerlain bestellen den Duft, beide exklusiv.

Nosy Be hat seinen Pilgerort Arbre Sacré de Mahatsinjo im Inselsüden. Am Eingang zum Heiligtum begrüßt Fanja Nirina Zina, die ihr Gesicht in den traditionellen Farben und Mustern der Sakalava bemalt hat. Für Fanja ist das Ausdruck von Respekt. Um Respekt werden auch die Europäer gebeten. Vor dem Betreten müssen sie ihre Kleidung mit einem lokalen Tuch verhüllen, die Schuhe ausziehen und - Achtung: »fady«! - niemals mit dem linken Fuß zuerst eintreten. Der einst angeblich von Buddha geweihte Baum ist eine gewaltige Pappelfeige (ficus religiosa), die 1836 als Gastgeschenk Sri Lankas für Königin Ranavalona I. nach Nosy Be kam und im Dorf gepflanzt wurde. Inzwischen ist aus dem Baum eine verzweigte Kathedrale aus Luftwurzeln gewachsen. »Die Menschen kommen von weit her«, sagt Fanja, weil darin die Ahnen aller Madagassen wohnen - Christen, Hindus, Moslems. Umgeben vom Wurzelgeflecht und rot-weißen Tüchern in den Farben des Sakalava-Volkes birgt die Opferstätte Schalen mit Geldnoten, Münzen, Gewürze und eine Flasche »Bonbon Anglais«, der extrem süßen heimischen Limonade. Man wünscht sich Gesundheit, Kindersegen oder einen reichen Ehemann. Auch Fanjas Fürbitten seien in Erfüllung gegangen. Man müsse fest daran glauben.

Nach Verlassen des Arbre Sacré führt sie die Gäste durch Gemüsebeete und eine Bananenplantage zur Schule für Ökotourismus. Der Lehrer Jean-Pierre Tomana steht an der Tafel und erklärt den Schülern gerade das Wesen des Chamäleons. »Es ist extrem langsam wie wir Madegassen auch«, sagt er und erzählt die Legende, wieso das so ist. Eines Tages kam Gott und schalt das Chamäleon: »Warum gehst du so schnell!?« Schnelligkeit bringe kein Glück. »Geh langsam, mora, mora!« So verdammte Gott das Chamäleon zur Langsamkeit. Nur seine blitzschnelle Zunge durfte es behalten.

Infos

Fremdenverkehrsamt Madagaskar: www.madagascar-tourisme.com/de

Beste Reisezeit:

In der Trockenzeit von Juni bis November. In der Regenzeit von Januar bis März besteht Zyklon-Gefahr. Klima: tropisch. Die Temperaturen sinken selten unter 21 Grad.

Gesundheit:

Malaria-Prophylaxe wird empfohlen. Die im August 2017 ausgebrochene Pest-Epidemie hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Anfang 2018 für beendet erklärt.

Einreise:

Deutsche Staatsangehörige benötigen für die Einreise nach Madagaskar ein Visum, das bei Ankunft am Flughafen für einen Aufenthalt von bis zu 90 Tagen ausgestellt wird.

Die Gebühr für das Visum ist gestaffelt und beträgt für einen Aufenthalt von bis zu 30 Tagen 80 000 Ar (ca. 20 Euro).

Pauschalreisen: Viele Reiseveranstalter haben Madagaskar im Angebot.

Literatur: Heiko Hooge, »Madagaskar«, DuMont-Reiseverlag, 296 S., 17,99 €. Der Reiseführer erscheint im Dezember, kann aber bereits vorbestellt werden.

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