Stunde des Wir

Das Virus macht denkbar, was unmöglich schien. Die Chance muss ergriffen werden.

  • Ingar Solty
  • Lesedauer: 7 Min.

In der Kapitalismuskrise von 2008 wurden linke Beobachter nicht müde, darauf hinzuweisen: Die zwei chinesischen Symbole für das Wort »Krise« bedeuten ins Deutsche übersetzt »Gefahr« und »Chance«. Für die arbeitenden Menschen blieb am Ende damals nur die Gefahr: Kürzungen von Renten und im Gesundheitssystem, öffentliche Einstellungsstopps, Absenkung von Mindestlöhnen und Schleifung von Flächentarifverträgen in Südeuropa - alles im Namen der Wettbewerbsfähigkeit. Und im Namen der Reduzierung der Staatsschulden, die durch die Bankenrettungen erst zum Problem geworden waren.

Was aber ist in der jetzigen Krise Gefahr, was Chance? Die Gefahren liegen auf der Hand. Der Neoliberalismus ist nicht tot, bloß weil temporär die »schwarze Null« ausgesetzt wird, Regierungen nun fiskalisch massiv expandieren und Wirtschaftsminister Peter Altmaier sogar Verstaatlichungen ins Spiel bringt. Beides taten die Regierungen schon 2008 - zwei Jahre später wurde die Rechnung präsentiert.

Auch jetzt sprechen die Machthaber es offen aus. Etwa Donald Trump: »Die Staatsintervention ist keine Verstaatlichung der Wirtschaft. Ihr Zweck ist nicht die Schwächung des freien Marktes, sondern der Erhalt des freien Marktes.« Die Rechnung für die derzeitige Sozialisierung der Unternehmensschulden wird schon geschrieben.

Es soll hier indes um die Chancen gehen. Diese gibt es in mindestens fünf Bereichen.

Produzentenstolz

In der Covid-19-Krise zeigt sich, welche gesellschaftlichen Bereiche systemrelevant sind. Die Politik beklatscht auf einmal die Arbeiterklasse: Pflegekräfte, Supermarktkassierer, Lagerarbeiter, Lieferanten. Die Arbeiter sind an der Hauptkampflinie der Krise, versorgen die Gesellschaft und gefährden sich und ihre Angehörigen. Die Mittelklasse erlebt, was es bedeutet, in Kitas, Kindergärten und Grundschulen eine Horde Kinder zu betreuen. Niemand vermisst Anzugträger an Börsen oder in Kanzleien von Großkonzernen. Diejenigen, die lange unsichtbar gemacht wurden, deren Kündigungsschutz von den Mächtigen als zu fest, deren Löhne als zu hoch und deren Rentenansprüche als zu gierig dargestellt wurden, sind jetzt Helden.

Dieser Diskurswechsel ist bedeutsam. Es ist ja richtig: Applaus bezahlt nicht die Miete. Es stimmt auch, dass die internationale Politik gerade Schutzschirme vor allem für Konzerne und weniger für deren Beschäftigte spannt. Aber es gibt das Potenzial für ein neues Selbstbewusstsein der lohnabhängigen Massen: Wer systemrelevant ist, sollte besser bezahlt werden! In Deutschland heißt das: Der Mindestlohn muss flächendeckend auf 13 Euro heraufgeschraubt werden.

Das neue Selbstbewusstsein ist auch deshalb relevant, weil die klassische Ansprache »Mann der Arbeit aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!« auch in der Linken zuletzt durch einen ent- statt ermächtigenden Opferdiskurs ersetzt wurde: die armen Hartz-IV-ler, die armen Leiharbeiter, Werkverträgler! Derzeit erleben wir hingegen einen neuen Produzentenstolz.

Das neue Selbstbewusstsein der Klasse entsteht aber nicht im Diskurs. Es entwickelt sich durch neue Arbeitskämpfe gegen die Zumutungen von Konzernherren in den nicht systemrelevanten Bereichen. In Deutschland kämpfen die Gewerkschaften für die Anhebung des Kurzarbeitergelds auf 90 Prozent statt der von der Regierung zugestandenen 60 Prozent. In anderen Ländern kommt es zu wilden Streiks für einen Produktionsstopp und Krankengeld: in Italien bei Fiat, in der Stahlindustrie, den Werften, der Rüstungsindustrie und der Luftfahrt; in Spanien bei Mercedes, Iveco und Volkswagen; in den USA bei Fiat-Chrysler, WholeFoods, General Electric und bei Amazon in Chicago, New York und anderswo.

Solidarität

Krisen rufen Angst hervor. Sie vertiefen erlernte Tendenzen bei der Suche nach Handlungsfähigkeit. Bei manchen Menschen offenbart die Krise die verinnerlichte Entsolidarisierung des Neoliberalismus.

Zugleich zeigen sich neue Formen der Solidarität und Vergesellschaftung: In manchen deutschen Städten eröffnen solidarische Menschen auf öffentlichen Plätzen Sammelstellen für Nahrungsmittel für Obdachlose, im kanadischen Montreal verabreden sich Nachbarschaften, um von ihren Balkonen und aus den Fenstern gemeinsam Leonard-Cohen-Lieder zu singen. In Bamberg singt man auf den Dächern gemeinsam »Bella Ciao«, in Solidarität mit Italien. Auch bieten sich Linke als Einkäufer für ihre vulnerablen Mitbewohner an. Plötzlich kennt man seine Nachbarn, und sie erleben praktische Solidarität. Die Krise ist auch eine Stunde des Wir.

Diese neuen Raumzusammensetzungen sind ein enormes Potenzial für künftige Stadtpolitik. Die Linke sollte diese Früchte ernten. Teilweise tut sie es schon, wenn in Niedersachsen und anderswo Mitglieder der Linkspartei gerade die geschlossenen Tafeln ersetzen und so Ernährungssicherheit gewährleisten. Sie erinnern damit auch daran, dass die soziale Revolution und die Räterepubliken von 1918/19 das Ergebnis von Arbeiterräten waren, die entstanden, um die zusammengebrochene Versorgung zu bewerkstelligen. Und wenn die Linke es nicht macht, versuchen es - so wie in Bamberg - auch die Neonazis.

Umverteilung

Diese Krise bietet drittens nicht nur Chancen für Organisierung an der Basis, sondern auch für die Veränderung der großen Strukturen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Das Großbürgertum sorgt sich darum längst. »Es wird (nach dieser Krise) schwieriger werden, zu argumentieren, dass der ›magische Geldbaum‹ nicht existiert. Wenn die kapitalistischen Staaten grenzenlos Geld ausgeben können, um die Coronavirus-Pandemie zu bekämpfen, dann werden die Menschen fragen, warum Regierungen das nicht unter anderem auch tun können, um in einen Green New Deal zu investieren?«, schrieb kürzlich der »Economist«.

Es geht um die zukünftigen notwendigen Billioneninvestitionen für den sozial-ökologischen Systemwechsel. Die Forderung nach einem in dieser Richtung intervenierenden Staat wird durch die Krise untermauert. Dass private Konzerne das kapitalistische Profitmaximierungsprinzip auf die Spitze treiben, indem der Preis für Schutzkleidung in Deutschland um das 19-Fache stieg, und US-Pharmakonzerne die Preise für bei Corona womöglich wirksame Medikamente einfach mal verdoppelten - das macht offenkundig, was Linke schon immer sagten: dass der Markt im Kapitalismus kein effizienter Verteilungsmechanismus ist, sondern ein Mittel zur Bereicherung privater Konzerne auf Kosten der Gesellschaft und der Umwelt.

Die Krise zwingt die Staaten dabei zum Teil zu ungewöhnlichen Maßnahmen, wie etwa die Verstaatlichung der Krankenhäuser in Spanien. Offensichtlich hat ein durchökonomisiertes Gesundheitssystem mit privatisierten und aus Rentabilitätsgründen geschlossenen Krankenhäusern, Fallkostenpauschalen und so weiter nicht der Gesundheit gedient, sondern allein der Profitmaximierung und der Einsparung öffentlicher Mittel, die dann Steuersenkungen für Konzerne und Reiche ermöglichen können. Die Notwendigkeit der Rekommunalisierung und Finanzierung der Krankenhäuser zur Gewährleistung von öffentlicher Gesundheit zeigt sich in dieser Krise deutlich. Da auch schon die Krise am Wohnungsmarkt demonstriert, dass die großen börsennotierten Immobilienkonzerne in die öffentliche Hand gehören, sollte die Linke nun flächendeckend für ein Programm werben, dass die elementaren Bereiche Gesundheit, Bildung, Wohnen, Mobilität und Kommunikation sofort vom Profitprinzip befreien will. Die Krise ist die Stunde der Sozialisierung.

Relokalisierung

Zu einer solchen ökologisch nachhaltigen und demokratisch geplanten Wirtschaft gehören viertens auch die Relokalisierung von Produktion und eine selektive Deglobalisierung. Auch hier bietet die Krise Chancen. Verschärft durch die Just-in-time-Produktion haben Chinas Coronakrise und die internationalen Grenzschließungen auf einmal essenzielle Güter knapp werden lassen. Die Krise zeigt, wie verletzlich das System der privaten, profitorientierten Produktion öffentliche Gesundheitssysteme macht, wenn aus Kostengründen medizinische Güter aus China importiert werden müssen. Die Coronakrise zwingt den Nationalstaat plötzlich, strategisch wichtige Produktionen in einer neuen Form der Kriegswirtschaft anzuweisen. In Deutschland produzieren Volkswagen, die Autoindustriezulieferer Zettl und Sandler, der Matratzenhersteller Breckle sowie die Textilkonzerne Trigema, Mey, Eterna und Kunath jetzt Sanitätsartikel wie Atemmasken, während Jägermeister und Diageo sowie die Beck’s-Brauerei nun Desinfektionsmittel herstellen.

Diese Krise bietet damit die Chance auf eine langfristige Relokalisierung von Produktion, die etwa auch klimapolitisch geboten ist.

Bedürfnisorientierte Produktion

Der neue Staatsinterventionismus und jene kriegswirtschaftliche Produktionsumstellung der Konzerne zeigen darüber hinaus fünftens, welche Formen von Industriekonversion in sozial-ökologischer Richtung möglich wären, wenn die Staaten sie nur wollen würden. Sie zeigen, was gesellschaftlich machbar wäre, wenn wir unsere Gesellschaften langfristig planten, statt ihre Entwicklung den stets sehr kurzfristigen Profitinteressen von Konzernen zu überlassen, die mit der Zerstörung unseres Planeten und unserer Gesellschaften ihr Geld verdienen. Die gegenwärtigen Planungen lassen eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufschimmern, in der nicht mehr die Profitmaximierung auf dem Rücken von Mensch und Natur, sondern der Gebrauchswert von Produktion für unsere gesellschaftlichen Bedürfnisse im Mittelpunkt steht.

Die Krise ist also - auch - eine historische Öffnung und Chance. Fiskalische Expansion, Wirtschaftsplanung und Industriekonversion werden aber nicht anhaltend sein und nicht dauerhaft in eine Wirtschaft umfunktioniert werden, die den Interessen der vielen und nicht der wenigen dient sowie dem Schutz des Planeten und nicht der Profite, wenn niemand mit Macht darauf drängt.

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