Irlands nationale Schande

Bericht belegt jahrzehntelangen Missbrauch in Mutter-Kind-Heimen

  • Dieter Reinisch
  • Lesedauer: 3 Min.

Es sind Zeugnisse unermesslichen Schreckens: »Die Nonne sagte zu mir, dass mich Gott nicht will, ich sei Dreck.« - »Als meine Eltern es herausfanden, haben sie sich geschämt, sie riefen den Pfarrer an und ich wurde weggebracht.« - »Ich hatte so viel Angst, dass ich jede Nacht in mein Bett gemacht habe. Am Morgen haben mich die Nonnen geschlagen und an den Ohren ins Bad gezerrt.« Dies sind drei Erinnerungen von Überlebenden der irischen Mutter-Kind-Heime. Sie verdeutlichen den Horror, den unverheiratete Mütter täglich in den Heimen durchleben mussten.

Nach der Unabhängigkeit des Südens Irlands 1922 baute der Staat gemeinsam mit der katholischen Kirche ein Netzwerk von Heimen auf, in das unverheiratete Mütter gebracht wurden. Die Kinder wurden ihnen weggenommen und zur Adoption freigegeben. Die Frauen selbst wurden zu schwerer Arbeit gezwungen. Ein großer Teil der Neugeborenen starb an Unterernährung, Krankheiten und Misshandlungen. Die Heime wurden erst 1998 geschlossen.

Nach fünf Jahren Arbeit wurde am 12. Januar ein 3000 Seiten starker Bericht der Untersuchungskommission zu den Mutter-Kind-Heimen veröffentlicht. Aus ihm geht hervor, dass in den 76 Jahren 56 000 Mütter in die Heime gebracht wurden, in denen sie 57 000 Kinder auf die Welt brachten. Die durchschnittliche Sterberate der Babys lag bei 15 Prozent. 9000 Kinder überlebten die Heime also nicht. Am höchsten war die Sterberate in den 1940er Jahren. Damals überlebten nur 40 Prozent der Neugeborenen ihr erstes Lebensjahr. Die meisten Babys starben an Atemwegserkrankungen und Magen-Darm-Entzündungen.

Die Mehrzahl der Frauen wurde in den 1960er und frühen 1970er Jahren in die Heime eingewiesen. In einer Zeit, als im Rest der Welt bereits die zweite Feminismuswelle festgefahrene Strukturen aufbrach, wurden in Irland unverheiratete Mütter weggesperrt und als Sünderinnen stigmatisiert. Aus dem Bericht geht hervor, dass Frauen misshandelt und sexuell missbraucht wurden. Viele entwickelten dadurch lebenslange psychische Krankheiten.

Nach der Veröffentlichung des Berichts entschuldigte sich der höchste katholische Geistliche Irlands, Eamon Martin, Erzbischof von Armagh, im Namen der Kirche bei den Opfern und Hinterbliebenen für das erlittene Unrecht. Auch Regierungschef Micheál Martin entschuldigte sich am Mittwoch im Parlament. Er betonte, dass die irische Gesellschaft dieses System zugelassen hatte: »Wir alle sind dafür verantwortlich.«

Diese Interpretation wird von vielen Hinterbliebenen, Aktivisten und Forschern kritisiert. Vor zehn Jahren hatte die Historiker-in Catherine Corless in einem Bericht den Horror in einem Mutter-Kind-Heim in der Kleinstadt Tuam in der Grafschaft Galway öffentlich gemacht. Dort waren im Garten des Heims 796 Babyleichen gefunden worden. Vom Bericht zeigt sie sich enttäuscht: »Nach fünf Jahren Arbeit erfahren wir nun wenig Neues. Was mich am meisten ärgert, ist, dass Micheál Martin uns, der Gesellschaft, die Schuld gibt.« Geschaffen wurde das System, das unverheiratete Mütter als Verbrecherinnen ansah und das von der Gesellschaft mitgetragen wurde, vom irischen Staat und der katholischen Kirche. Einige der Heime wurden von lokalen Gesundheitsbehörden geführt, andere von religiösen Orden. In der menschenverachtenden Behandlung der Frauen unterschieden sie sich nicht.

Der langjährige Präsident und Gründer der konservativen Fianna-Fáil-Partei, Éamon de Valera, hatte Irland 1937 eine neue Verfassung gegeben. Mit ihr wurde eine »katholische Nation« etabliert. Der schwache, verarmte Staat des postkolonialen Irland lagerte Ausbildung, Gesundheitswesen und soziale Wohlfahrt an die Kirche aus. Mit den Funktionen gab er auch die Kontrolle ab und verschloss die Augen vor den Misshandlungen in den Heimen. Die Formulierungen im Untersuchungsbericht tendieren nun dazu, die Schuld primär auf die Gesellschaft abzuwälzen; die Verantwortung von Staat und Kirche wird nur nachrangig erwähnt. Vielen Hinterbliebenen ist das zu wenig.

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