Werbung

Volle Schaufenster, leere Läden

Russlands Wirtschaft leidet massiv unter dem Preisverfall des Erdöls

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Kreml will Russlands Wirtschaft mit einem neun Milliarden Euro schweren Hilfspaket unter die Arme greifen. Doch ob das reicht und woher das Geld kommen soll, ist unklar.

Der Pressechef von Russlands Präsident Wladimir Putin hob - wieder mal - abwehrend die Arme: Keine Details. Um eben diese zu erfahren, hatten Journalisten vor kurzem mehrere Stunden vor den stuckvergoldeten Flügeltüren im Kreml ausgeharrt, hinter denen die russische Regierung über ein neues Anti-Krisen-Paket beriet. Den Vorsitz führte der Kremlchef, obwohl die russische Gewaltenteilung der Regierung die Verantwortung für Wirtschaft und Finanzen überhilft. Scheitert sie, zahlt auch allein die Ministerriege die Zeche. Mit Verlust von Amt, Pfründen und Privilegien.

Der vom Wirtschaftsministerium vorgelegte Plan - er besteht aus 96 Punkten, in denen es um Strukturreformen und Verbesserung des Investitionsklimas, Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen sowie der Regionen geht - habe die Billigung des Präsidenten gefunden, erzählte ein Teilnehmer der Runde später der Wirtschaftszeitung »Wedomosti«. Die Endfassung stehe aber noch aus, offen, heftig umstritten sei vor allem die Finanzierung. Der Bedarf ist gewaltig: 750 Milliarden Rubel, umgerechnet neun Milliarden Euro, soll das Hilfspaket kosten. Allein die ums Überleben kämpfende Autobranche soll mit 138 Milliarden Rubel aufgepäppelt, die Regionen sogar mit 310 Milliarden entlastet werden.

Dennoch forderte Premier Dmitri Medwedew gleich nach Ende der Neujahrsferien von ausnahmslos allen Ministerien und anderen zentralen Behörden konkrete Vorschläge für eine zehnprozentige Kürzung ihrer Ausgaben ein. Denn Russlands Staatshaushalt, der sich vor allem durch Einnahmen aus Energieexporten finanziert, ist auf einer Basis von 50 US-Dollar pro Barrel Erdöl kalkuliert. Derzeit aber fragen sich Analysten, ob der Ölpreis nicht unter 25 Dollar oder sogar noch tiefer fallen könnte.

Auch Russlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) schrumpfte durch den Ölpreisverfall 2015 um 3,7 Prozent. Und der Rubel, dessen Wert sich schon im vergangenen Jahr halbiert hatte, gab gegenüber dem Dollar um weitere zwölf Prozent nach. Ende Januar kostete ein Greenback 85,99 Rubel. Das ist der tiefste Stand seit Sommer 1998, als sich die Regierung nach Bankencrash und Faststaatspleite zu einer Währungsreform aufraffte und den Rubel um drei Nullen erleichterte.

Ölpreisverfall, Rubelschwäche und die Inflation, die 2015 bei über 15 Prozent lag, sorgen dafür, dass der russische Normalverbraucher real vier Prozent weniger im Portemonnaie hatte als 2014. Daher und weil sich durch den Währungsverfall auch die meist importierten Konsumgüter verteuerten, brachen auch die Einzelhandelsumsätze um zehn Prozent ein.

Zwar sind die Konsumtempel, die in den fetten Jahren, als der Ölpreis zeitweilig die Latte von 150 US-Dollar riss und die Wirtschaft boomte, überall in Moskau wie Pilze aus der Erde schossen, nach wie vor gut gefüllt. Doch Käufer sind selten, obwohl die Händler bis zu 70 Prozent Nachlasse auf die Winterkollektion geben. Im schicken Jewropeiski am Kiewer Bahnhof, wo über 500 Geschäfte, Restaurants, Nachtclubs und Fitnessstudios mit einer Gesamtfläche von 180 000 Quadratmetern locken, schlurfen die meisten Besucher nur ziellos und mit mürrischem Gesicht durch die insgesamt acht Etagen, drücken sich die Nasen an den Auslagen der Boutiquen platt, wagen sich aber nicht über die Schwelle. Denn auf jeden potenziellen Käufer stürzt sich ein halbes Dutzend Verkäufer, denen die Angst vor nicht erfülltem Umsatzsoll und Kündigung in den Augen steht.

Rekordverdächtig ist dagegen der Kapitalabfluss; Für 2015 rechnen die Kassenwarte mit einem Minus von 90 Milliarden US-Dollar. Westliche Unternehmen ziehen nicht nur ihr Geld ab, sie schließen auch ihre Filialen. Denn auch die Aussichten für 2016 sind alles andere als rosig. Die Entwicklungen werden auf dem Ölmarkt entschieden, warnen Analysten. Bleibt der Preis auf dem derzeit niedrigen Niveau, könnte das BIP um fast vier Prozent schrumpfen, fürchtet sogar Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew. Das Licht am Ende des Tunnels, das Putin bei seiner Rede zur Lage der Nation im Dezember beschwor, könnte der Scheinwerfer einer Lok sein, warnt Finanzexperte Slawa Rabinowitsch.

In 14, spätestens 20 Monaten, orakelt er, sei auch der Bodensatz der bereits heftig geplünderten Reservefonds aufgezehrt. Der Markt als »kollektiver Verstand« der Investoren werde jedoch erheblich früher reagieren und Putin die Quittung für dessen verfehlte Wirtschaftspolitik präsentieren. Ereignisse, die nicht vorhersehbar sind - Rabinowitsch spricht von »schwarzen Schwänen« - würden als Katalysator und nach dem Dominoprinzip wirken. Als Auslöser für den Zusammenbruch des Finanzsystems oder den Kollaps der Wirtschaft würde der Bankrott einer einzigen Großbank oder eines Energiegiganten genügen. »Niemand wird mehr Geld verleihen, weil unbekannt ist, wer welche Leichen im Keller hat und wie viel«, warnt Rabinowitsch und spielt dabei auf den Schuldenberg an, den russische Unternehmen angehäuft haben: Insgesamt eine halbe Billion US-Dollar.

Ein erste Warnung vor dem, was kommt, könnte vielleicht die Schließung der beiden mittelgroßen Banken Interkommerts und Alta-Bank am Montag durch die russische Zentralbank sein. Um Wirtschaft und Banken zu retten, könnte die Regierung zwar - wie 2008 von den USA vorgemacht - die Notenpresse anwerfen. Der Rubel würde dadurch allerdings ins Bodenlose stürzen und die Lage noch viel schlimmer machen.

Die Katastrophe abwenden, glaubt Rabinowitsch, könne nur der Internationale Währungsfonds. Der werde dafür aber einen hohen Preis fordern: politische Reformen, ja sogar Machtwechsel. Wirtschaftsreformen allein reichten nicht mehr. Selbst die geplante Privatisierung von Staatseigentum oder das neue Anti-Krisen-Paket würden die Agonie nur verlängern. Zumal der IWF meist auch Wirtschaftsreformen fordert, die nicht nur unsozial, sondern zumindest kurzfristig auch schädlich für die Wirtschaft sind.

»Plan B oder Plan C ergeben nur Sinn, wenn man einen Plan A hat«, meint Rabinowitsch. Den indes, glaubt die kritische Zeitung »Nowaja Gaseta«, hätten weder Putin noch Medwedew. Niemand, so das Blatt, wolle an die Zukunft denken. Die politische Führung hat demnach nur einen Horizont - die Präsidentenwahl im Jahr 2018. Bis dahin wolle sie sich durchwursteln. Irgendwie und um jeden Preis.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal