Tollkühne Frauen des Exils

Die beiden gleichaltrigen Jüdinnen Anna Maria Jokl aus großbürgerlichen und Dora Dick aus proletarischen Verhältnissen mussten während des deutschen Faschismus ins Exil. Wiederholt kreuzten sich ihre Lebenswege. Antonín Dick erzählt die Geschichte der beiden Frauen, die dieser Tage 105 Jahre alt geworden wären.

  • Antonín Dick
  • Lesedauer: 13 Min.

Sie musste raus. Als Jüdin und Linke stand sie auf den Listen von SA und SS. Aber es gab noch einen anderen Grund, über den Dora Dick, meine Mutter, später nur mit Scham sprechen konnte, und das war der Verrat. Menschen, mit denen sie eben noch gemeinsam gegen die Nazis gekämpft hatte, wechselten plötzlich die Seite. So wurde 1933 für sie das Ende hierzulande, politisch wie menschlich: »Unbegreiflich war alles, was um mich herum geschah.«

Gerade für sie, die durch Armut früh Geweckte und Hoffnung Schöpfende, seit sie mit dem Kommunismus sympathisierte. Sie hatte ihre Lektion gelernt und das massenhafte Schwärmen vom plötzlich erwachenden Deutschland entsetzt durchschaut als Bedrohung durch einen Rassenstaat mit einem Gewaltverständnis von sozialer Welt, archaisch, völkisch, der unweigerlich im Krieg enden würde. Keine Mühe scheuend, stellte sie sich linken Zusammenschlüssen und Gruppen zur Verfügung, vor allem dann, wenn es darum ging, die soziale Demagogie der Nazis zu entlarven. Und sie konnte das, weil sie über ein untrügliches Sprachgefühl verfügte. Sie agitierte unter den hungernden Verlierern der Weltwirtschaftskrise, die mit ihr nach Alternativen suchten, zunächst im umtriebigen Osten Berlins, wo sie aufgewachsen war, aber auch auf den Prachtboulevards in Mitte, vor den Straßencafés, wo sie politisch interessierten Angehörigen des Bürgertums kommunistische Zeitungen und Zeitschriften verkaufte. Dann musste sie, weil die Demokratie zerfiel, untertauchen. Doch im Untergrund kämpfte sie weiter, selbst dann noch, als die Nazis, den Reichstagsbrand nutzend, anfingen, die Opposition zu jagen: »Fünf Männer habe ich eingeschlossen / Ich habe die Schlüssel gehabt / Sie durften nicht verhaftet werden / Wir hatten Angst, sie fangen an zu reden, wenn man sie foltert / Täglich brachte ich Mittagessen, das ich gekocht hatte / Einen großen Topf fünf Stockwerke hoch / Oben machte ich es warm und stellte es auf den Tisch / Mit seinem Löffel langte jeder von uns zu aus diesem Topf / Wir aßen, ohne ein Wort zu sagen und dann ging ich / Sie durften nicht reden / Sie durften kein Licht anmachen / Sie durften nur essen und schlafen«.

Tollkühne Frauen des Exils

Dora Dick
Geboren am 5. Februar 1911 in Berlin, gestorben am 23. Januar 2012 in Berlin.
Im Jahre 1962 vom Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl mit der Verleihung der Medaille für Kämpfer gegen den Faschismus 1933-1945 geehrt.
Ihre Erinnerungen an die Exilzeit »Es war mir in Deutschland zu still« sind noch nicht erschienen.

Anna Maria Jokl
Geboren am 23. Januar 1911 in Wien, gestorben am 31. Oktober 2001 in Jerusalem.
Im Jahre 1995 vom Kulturkreis der Deutschen Wirtschaft des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e. V. mit der Verleihung des Hans-Erich-Nossack-Preises geehrt.
Zu ihren Werken gehören die Bücher »Die Reise nach London«, »Essenzen« und »Aus sechs Leben«.
Aus diesen Werken zitiert Antonín Dick in seinem Text.

Flucht? Ja, auf jeden Fall, die Niederlage, der Hass gegen Juden, der Verrat. »Und dann die kriegerischen Aufmärsche! Da knallten die Stiefel wie nur irgendwas, Springerstiefel hatten die an. Und wie abends in den dunklen Himmel ihre Fackeln loderten!« Aber fliehen wohin? Sie, die arbeitslose Schneiderin aus dem jüdischen Proletariat? Sie hatte ja nicht einmal Geld für eine Fahrkarte! Eine Scheinheirat mit einem besser gestellten Mann, einem Mitglied der Jüdischen Gemeinde, der ebenfalls emigrieren wollte? »Ich wurde verhaftet. Ich wurde durch die Straßen geschleift, am Halstuch, ich dachte, ich werde erwürgt. Ich hab mich losgerissen.«

Auch Anna Maria Jokl, wie Dora Mitstreiterin eines antifaschistischen Agitationstrupps, die »schauernd die apokalyptische Trächtigkeit« jener Wochen und Monate spürte, musste raus, auch sie stand als Jüdin und Linke auf den Listen von SA und SS. Würde der kommunistische Dichter Johannes R. Becher, dessen Geliebte sie war, helfen können? Sie stand dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller nahe. Er ebnete ihr den Fluchtweg nach Prag. Doch dann rebellierte sie - wie Dora rebellierte an einem anderen Fluchtort Europas, in Paris - gegen einen Mann, der sie nicht verstand, vor allem aber gegen die Verlockungen eines Sich-Einrichtens im Exil:

»Ich muss ersticken in der Enge, die ihr alle / nicht fühlt. - Fühlt ihr sie wirklich nicht?/ Verschlägt’s euch nicht den Atem? / Spürt ihr nicht auch: Ich muss ersticken? / Versteht ihr nicht, dass man jetzt fliegen muss? / Doch spürt ihr nicht einmal das Näherjagen / der Enge, die uns einkreist. Ich ersticke … / Ja, wer jetzt Flügel hätte …« Um dann ein uremigrantisches Hochgefühl aus sich herauszuschleudern: »Und auf einmal / da merke ich: ich fliege, fliege …«

Was für eine Übereinstimmung im Denken und Handeln! Hatten die beiden Frauen sich gekannt? Die eine aus einer assimilierten Familie des bürgerlichen und gebildeten Wien und die andere aus einer aus Galizien eingewanderten, bettelarmen, orthodoxen Schneiderfamilie? Möglicherweise, wahrscheinlich, nein, ganz sicher, hatten doch beide in ein- und demselben kollektiven Prozess ihre politische Initiation erfahren. Es war Piscators Bühne am Nollendorfplatz im Jahre 1928, kein hermetisch abgeschlossener Kunsttempel, sondern Forum eines öffentlichen Diskurses, Ausgangspunkt radikaldemokratischer Aktionen, Labor einer neuen Éducation sentimentale mit leidenschaftlich Suchenden wie Sybille Binder, Bert Brecht, Ernst Busch, Tilla Durieux, Hanns Eisler, Alexander Granach, George Grosz, John Heartfield, Egon Erwin Kisch, Fritz Kortner, Heinrich Mann, Walter Mehring, Erich Mühsam, Ernst Toller, Helene Weigel und vielen anderen. Anna Maria studierte im Studio Schauspiel, begann bald mit Schreiben und Veröffentlichen, und schräg gegenüber vom Theaterbau, im Maß-Atelier Hentschel, erlernte Dora das Schneiderhandwerk, um dann in der zweiten Hälfte des Tages auf dieser Insel des Utopischen weiterzulernen.

Prag 1937, nur sechs Wochen brauchte Anna Maria, um den Roman »Die Perlmutterfarbe« niederzuschreiben. Vorbei die Zeit, da sie, wie sie im »Uranus«-Gedicht beklagte, die Hände umsonst ausstreckte nach Freunden in der »ungeheuren Weite!« Eine packende und zugleich zeitlose Geschichte war entstanden, Reflex auf 1933, heute wieder aktuell, weltweit, man kann es nachlesen, wenn man wach und mit heutigen Augen liest: Gefahr einer Gesellschaft der Ungleichen im Namen der Herrschaft einer selbsternannten Elite, dieses Mal gegründet nicht auf Rasse, sondern auf Geld oder klimagünstige geografische Herkunft oder beides, eine Art friedensbemühter Ökofaschismus. Radikal wird erzählt, anhand eines Kampfes zweier Schulklassen um Macht und Gerechtigkeit. »Nur Kinder schienen in der Atmosphäre jener Zeit genügend ernst zu nehmen«, erklärte die Romanziere. Ein anderer Flüchtling, der Maler-Schriftsteller Oskar Kokoschka, schrieb später an Anna Maria: »Sie sind ein geniales Weib mit einem glühenden, roten Herzen.« Ja, das war sie, und ihr Meisterwerk voll verstörender Modernität, schillernd in allen Farben der Kindheit, hatte, wie noch zu berichten sein wird, Epoche gemacht - heroische wie düstere.

Paris 1934, nur ein paar Tage brauchte Dora, um nach monatelangem Rausch der Freiheit dem Gefühl »jeder muss alleine fliegen können« wieder zu entfliehen. Sie löste sich von ihrem Scheinmann, der nach Palästina auswanderte, meldete sich - »die brauchen dich, Rausch ist Verrat!« - bei der Auslandsleitung der KPD. Die Leitung schickte Dora ins faschistische Berlin zurück, als Verbindungsfrau. Dort nahm sie Kontakt mit ihrer alten Widerstandsgruppe auf, und ihre nicht mittellose Schwester versorgte sie mit einem Zimmer im unauffälligen Siegmunds Hof am S-Bahnhof Tiergarten im Westteil der Stadt, wo etliche begüterte jüdische Familien wohnten, auch übrigens Anna Marias Mutter und Stiefvater. Die Genossen der illegalen Gruppe täuschten die Nazis - nicht Paris, sondern Prag -, und so ging Dora 1935 nach Prag, Parteidokumente und marxistische Literatur in einem Koffer über die Grenze schmuggelnd, verkleidet als reiche Handlungsreisende. Doch am Abend, bevor ihr Zug den Bahnhof Friedrichstraße in Richtung Prag verließ, es war ein Freitagabend, Schabbes Einkehr, schlich sie sich in den nördlich vom Scheunenviertel gelegenen Kiez verarmter Juden, um von ihrer Familie Abschied zu nehmen, heimlich, zwei Straßen entfernt von der Choriner Straße, damit ihre Brüder sie nicht entdecken. Bebend stand sie da, in eine dunkle Toreinfahrt gedrückt, sah in Gedanken die beiden Kerzen brennen auf dem niedrigen Tisch ihrer Mutter, hörte in Gedanken die Gebete und jiddischen Gesänge aus Galizien, roch den Weizenzopf, und über ihre Wangen rannen die Tränen. Nie wieder sah sie Mutter und Geschwister.

Im März 1939 besetzten die Deutschen Prag. Bereits im Vorfeld hatte Hitler den Befehl zur Liquidierung der Emigration gegeben. Panik unter den Emigranten. Nicht wenige flüchteten in den Selbstmord. Unerwartet war Schnee gefallen, und die Schneeflocken tanzten unschuldig wie zum Hohn durch die Gassen und Straßen einer gespenstischen Stadt. Hunderte von Emigranten rannten von Botschaft zu Botschaft, Anna Maria konnte in der französischen Zuflucht finden, Dora in der sowjetischen. Versprechen waren rar in diesen verlorenen Tagen und Nächten, dennoch flogen aus Großbritannien Zeichen der Hoffnung herüber. Der nächtliche Ausbruch aus der abgeriegelten Stadt gelang, trotz einer Geheimarmee von Spitzeln, die man eilends aus dem inzwischen vergifteten Boden der tschechischen Gesellschaft gestampft hatte. Ziel war das Industriegebiet von Mährisch-Ostrau, dann die schützenden Wälder in den Bergen und die tschechischen Fluchthelfer. Auf der anderen Seite der Grenze, in Katowice, erhielten die Fliehenden von den Briten ihre Visen - kaum noch geglaubte Rettung. Und was wurde aus dem Romanmanuskript - nicht minder lebenswichtige Rettung? Im Massenlager von Katowice - beide Frauen saßen hier fest -, erfuhr Anna Marias Fluchthelfer vom Manuskript, das sie in der französischen Botschaft hinterlegt hatte. Es imponierte ihn, dass sie nicht über den Verlust von Besitz geklagt hatte, nur über das verlorene Manuskript. Das gefiel ihm so gut, dass er es riskierte, zurückzufahren und das Manuskript über die Grenze zu schmuggeln.

Kaum in England angekommen, im Frühjahr 1939, stürzten sich auch schon beide Antifaschistinnen in die neuen Aufgaben des Exils, Anna Maria in die kulturpolitische Arbeit der tschechoslowakischen Exil-Jugendorganisation »Young Czechoslovakia«, in die Theaterarbeit mit Flüchtlingskindern sowie in das journalistische und bühnenliterarische Schreiben, Dora in den Aufbau des Freien Deutschen Kulturbundes (FDKB), der bedeutendsten und zahlenmäßig größten Exilorganisation in Großbritannien. In der mittelenglischen Emigrantenstadt Royal Leamington Spa gründete sie, inzwischen Mitglied der Kommunistischen Partei geworden, im Auftrag des Londoner Vorstandes eine Ortsgruppe des FDKB. Besondere Verdienste in London erwarb sie sich um die Ausstellungsarbeit mit Exilkünstlern, insbesondere in der Zusammenarbeit mit einem der Gründer des FDKB, mit Oskar Kokoschka, die voller Dramatik war, denn die von ganz unten Kommende widersprach dem Künstler von Weltrang ständig. Kokoschka ging es um die Qualität der Werke, Dora um die Entwicklung von Künstlerpersönlichkeiten, die noch unbekannt waren, vornehmlich um die aus dem Arbeitermilieu. »Die Ausstellung wird von denen getragen, die auch an der Vorbereitung beteiligt sind«, musste sich Kokoschka von seiner Ausstellungsassistentin sagen lassen, ohne sich wehren zu können. Er wollte den Widerspruchsgeist malen, doch der widersprach auch hier.

Als die Deutschen im August 1940 damit begannen, die Londoner Bevölkerung mit Luftschlägen zu terrorisieren, waren auch die beiden Frauen auf das nackte Überleben zurückgeworfen. »Jetzt ist nur mehr das Leiden der Menschen um mich da. Ich selber habe mich so tief in mich zurückgezogen, dass ich schon überhaupt nicht mehr das Bedürfnis habe, auszusprechen, mich verständlich zu machen«, notierte Anna Maria am 28. September in ihr Tagebuch. Dora war zu diesem Zeitpunkt im Emigrantenheim in Hampstead untergebracht. Hampstead gehörte zu den Stadtteilen im Osten und Norden der Stadt, die am heftigsten bombardiert wurden: »Das Emigrantenheim blieb unversehrt, und da sind wir auch zuerst hineingeflüchtet. Die Kinder schrien wie verrückt, drückten den ganzen Wahnsinn aus, der uns umgab. Wochenlang gingen die Bombenangriffe. Und wir durften uns nicht im Freien sehen lassen, die Nazis haben nur darauf gewartet. Wir wurden von der Druckwelle auf die Bäume geschleudert, sind unter die Bänke gekrochen, die vor dem Heim standen, oder in den erstbesten Keller geflüchtet. Obendrein mussten wir aufpassen, dass sich keine Nazis unter uns mischten, deutsche Spitzel, die unsere Unterschlupfe ausfindig machen sollten.« Die Angst vor »The Blitz« war allgegenwärtig. Die Londoner stellten sich auf ein Leben in Bunkern ein. In Hampstead Heath, dem armen Teil des Viertels, gab es jedoch kaum Bunker. So gruben die Emigranten sich selber welche, unter den niedrigen Kellern alter Häuser oder im Freien: »Und da unten sind wir dann zusammengerückt, deutsche Emigranten und Engländer. Hast eine Decke um den Körper gewickelt und bist da eingeschlafen. Und mitten im Schlaf hast du einen Hieb gekriegt, hat dich jemand geweckt, weil es weiterging, du konntest da nicht bleiben, weil diese Strecke gerade stark bombardiert wurde und die Bunker trotz unseres Fleißes nicht tief genug waren. Wie verrückt sind wir dann raus und um unser Leben gerannt. Etlichen Menschen hat diese Flucht ins Freie das Leben gekostet. Verletzte wanden sich stöhnend und schreiend am Boden. Wir mussten sie auf den mit Trümmern übersäten und qualmenden Straßen zurücklassen.«

Bahnten sich beide Frauen wie weibliche Josephe ihren Weg durch den Nachkrieg - träumend, voll der Fähigkeit, menschliche Begegnungen und Wiederbegegnungen als Wunder zu begreifen? Was war das für eine neue Gesetzmäßigkeit, dass nicht mehr der Mensch die soziale Verantwortung sucht, sondern sie ihn? »Ich fange an zu verstehen, was Participation Mystique ist«, notierte Anna Maria. Am 9. September 1947, noch in London, vertraute sie ihrem Tagebuch an: »Eigentlich fühle ich mich wie jemand, der mit einem Auftrag auf den Weg geschickt wurde. Der Weg ist etwas merkwürdig und nur aus dem Auftrag zu verstehen, doch habe ich den Auftrag vergessen, folge aber dem notwendigen Weg, der allen sinnlos erscheint, da sie nichts von dem Auftrag wissen können.« Doch nur wenig später, am 14. Februar 1948, setzte sie nach: Was für ein Auftrag könnte das wohl sein? Vielleicht »die Verbindung von Ost und West?« Genau zu diesem Zeitpunkt, als sie dies dachte, wurde in Ost-Berlin »Die Perlmutterfarbe« verlegt.

Dora arbeitete bereits seit Mitte 1946 - nach einem familiären Zwischenspiel in der Tschechoslowakei, aus der sie als Jüdin und kommunistische Emigrantin ausgewiesen wurde - an der Verbindung von Ost und West, denn der Ostberliner Parteivorstand hatte ihr den Auftrag erteilt, in West-Berlin, in der Zehlendorfer Kultur- und Wissenschaftslandschaft, antifaschistisch tätig zu werden.

Anna Maria wohnte seit Ende 1950 - nach einem Studienzwischenspiel bei Carl Gustav Jung in Zürich, wo ihr, weil sie Jüdin und linksgerichtete Emigrantin war, das Diplom als Psychotherapeutin verweigert wurde - in Ost-Berlin, denn die DEFA hatte ihr den Auftrag erteilt, für eine Verfilmung der »Perlmutterfarbe« unter der Regie von Wolfgang Staudte das Drehbuch zu schreiben. Doch die Londoner Vision, Ost und West miteinander zu verbinden, scheiterte. Weil sie scheiterte. Die Liebe.

West-Berlin, eine jüdische Widerstandskämpferin und Westemigrantin, ein deutscher Widerstandskämpfer und KZ-Häftling. Liebe. Das Staatssicherheitsministerium in Ost-Berlin verfügte die Auflösung der Beziehung, damit er, der Arbeiterfunktionär Erich Ziegler, der auf die Führung der West-Berliner Partei vorbereitet wurde, nicht länger unter dem Einfluss einer Kosmopolitin, Jüdin und Westemigrantin steht. Die Betrogene verlor ihren Vorstandssitz in der SED-Kreisleitung von Berlin-Zehlendorf, wurde von der Parteihochschule in Kleinmachnow, die ihr eine Parteikarriere gesichert hätte, entfernt, und musste, nachdem sie eine Tätigkeit in einem West-Berliner Bekleidungsunternehmen aufgenommen hatte, von vorn beginnen.

Ost-Berlin, eine jüdische Widerstandskämpferin und Westemigrantin, ein polnischer Westemigrant. Liebe. Das Staatssicherheitsministerium in Ost-Berlin verfügte gemeinsam mit sowjetischen Diensten die Auflösung der Beziehung, damit er, der Schriftsteller Boguslav Kuczynski, für den polnischen Geheimdienst tätig, nicht länger unter dem Einfluss einer Kosmopolitin, Jüdin und Westbürgerin steht. Die Betrogene wurde gegen den Protest vieler Genossen aus der DDR ausgewiesen, das Filmprojekt »Perlmutterfarbe«, das ihr eine Schriftstellerkarriere gesichert hätte, abgesagt, und sie musste, nachdem sie nach Israel emigriert war, von vorn beginnen.

Als Anna Maria schon neun Jahre in Jerusalem gelebt und gearbeitet hatte, im Jahre 1974, beging Kuczynski Selbstmord. In New York. Der Film »Die Perlmutterfarbe« in der Regie von Marcus H. Rosenmüller feierte 2008 seine Premiere. In München. Doras Manuskript des Exilberichtes »Es war mir in Deutschland zu still« und mein Manuskript des Poems »Selbstporträt eines Emigrantenkindes« warten auf den Druck. In Berlin. Druck? Der Druck von nunmehr drei Generationen lastet auf diesen unerlösten Geschichten, faucht das Gefühl. »Begreifen von Schlägen braucht seine Zeit zu ihrer Ent-Täuschung, wie Erich Fromm das Wort so erhellend dechiffriert«, kontert Anna Marias Verstand.

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