Ich habe täglich Schmerzen – und sie gehen nie mehr weg

Ex-Eishockeyprofi Stefan Ustorf spricht erschreckend offen über sein Leben mit den Folgen einer schweren Gehirnerschütterung

  • Lesedauer: 9 Min.

In den vergangenen drei Tagen sind sie von Atlanta nach Berlin geflogen, dann nach Köln und wieder nach Berlin. Ist das ihr normales Pensum?
Das war ein bisschen viel. Da kamen noch wetterbedingte Verspätungen dazu.

Sie mussten Ihre Karriere wegen einer Gehirnerschütterung beenden, und arbeiten jetzt trotzdem in einem Job, der manchmal so ein hohes Pensum hat. Wie geht es Ihnen damit? Wie groß sind Ihre Probleme?
Ich habe täglich Probleme. Manche gehen nie mehr weg, an die muss ich mich gewöhnen, ich muss mit ihnen klarkommen. Das ist jetzt mein normales neues Leben. Es gibt Tage, an denen das Pensum meines Jobs sehr hoch ist, aber dann gibt es auch wieder andere. Mein Arbeitgeber, unser Manager Peter John Lee, kennt meine Situation sehr gut. Er gibt mir dann auch mal die Möglichkeit, an bestimmten Tagen zu sagen: Jetzt fahre ich das Ganze mal zurück und mache einen halben Tag Pause. Ich weiß nicht, ob ich für irgendjemand anderen im Augenblick so arbeiten könnte.

Stefan Ustorf

Stefan Ustorf (42) spielte 21 Jahre lang professionell Eishockey, davon sieben Jahre in den USA. Die letzten acht Jahre seiner Karriere war er für die Eisbären Berlin aktiv, deren  Sportdirektor er heute ist. 2012 musste er seine erfolgreiche Laufbahn beenden, weil er nach zwei kurz aufeinanderfolgenden Gehirnerschütterungen nicht mehr spielen konnte. Ustorf erzählte nun nd-Sportredakteur Oliver Kern, wie sehr er noch heute unter der Verletzung leidet.

Unter welchen Alltagsproblemen leiden Sie?
Das sind grundsätzlich Schmerzen: Kopfschmerzen und Schwindel, Übelkeit bei zu hohem Pensum. Mein größtes Problem sind Temperamentsschwankungen. Extrem große Temperamentsschwankungen.

Sie sind verheiratet und haben zwei Kinder. Hat das Auswirkungen auf Ihre Familie?
Absolut, sehr sogar. Ich war nach dem Ende meiner Karriere zweieinhalb Jahre zu Hause, ohne zu arbeiten. Ich habe versucht, mich zu erholen, und sämtliche Therapien ausprobiert. Das ist sehr schwer für die Familie. Ich muss auch zugeben: Meine Familie war ausschlaggebend dafür, dass ich damit klargekommen bin.

War sie auch ausschlaggebend dafür, dass Sie Ihre Karriere beendet haben?
Nein, ich war einfach körperlich nicht mehr in der Lage, Eishockey zu spielen. Bei mir sind damals so viele Sachen kaputtgegangen. Ich habe große Probleme mit den Augen: Bei schnellen Kopfbewegungen kommen sie nicht mit, und ich sehe nichts mehr auf dem Eis. Die Wahl, ob ich weitermache, gab es also gar nicht mehr.

Kennen die Spieler der Eisbären Berlin Ihre Geschichte? Reden Sie mit ihnen darüber?
Sie kennen meine Geschichte, aber außer meiner Frau und meinem Doktor weiß niemand, wie schlecht es mir wirklich geht. Ich habe jeden Tag mit dieser Verletzung zu tun, ich habe jeden Tag Probleme, und ich bin in Behandlung, jeden Tag. Ich nehme Medikamente, doch es geht nicht weg. Wenn jemand fragt, werde ich immer darüber sprechen. Ich gehe aber nicht täglich in die Kabine und sage: Passt auf, passt auf, passt auf! Die Jungs sind sensibilisiert. Ich bin ja nicht der einzige Fall. Viele kennen Spieler, die damit kämpfen.

Beim Thema Gehirnerschütterung im Sport denken viele gleich an Sie. Ist es eine Belastung, das bekannte Gesicht zu sein, oder nehmen Sie die Rolle an, um öffentlich für Veränderungen zu sorgen?
Ich hoffe, dass sich etwas verändert. Es passiert auch viel. Es ist aber immer noch eine Verletzung, die sehr schwer zu verstehen ist für Leute, die damit noch nie etwas zu tun hatten. Sie ist unsichtbar. Man kann sie auch nicht wirklich gut diagnostizieren. Wenn ich jemandem helfen kann, mache ich das sehr gerne. Vor allem mein Vater tut inzwischen sehr viel. Ich bin auch immer bereit, mit Leuten darüber zu sprechen, die Fragen haben. Also sind das keine Belastungen. Meine Situation ist nun mal so, wie sie ist. Ob ich darüber spreche, oder nicht, ändert daran nichts. Von daher kann ich auch darüber reden, das ist kein Problem.

Was genau macht Ihr Vater?
Er war Vorsitzender des Vereins »Stop Concussions Deutschland e.V.«. In diesem gibt es aber ein paar Veränderungen, weil mit dem Wort »Concussions«, der englischen Übersetzung für Gehirnerschütterungen, in Deutschland sehr wenig anzufangen ist. Aber er wird weiter versuchen, Leuten, die mit diesem Problem kämpfen, zu helfen und Therapiemöglichkeiten zu besorgen.

Im Film »Concussion – Erschütternde Wahrheit«, der nun in die Kinos kommt, spielt Will Smith Dr. Bennet Omalu, der bei American-Football-Spielern die neue Krankheit Chronisch-traumatische Enzephalopathie (CTE) entdeckte. Sie ist bislang nur zu diagnostizieren, wenn man das Gehirn nach dem Tod untersucht. Gehen Sie davon aus, dass Sie an CTE leiden?
Die Diagnose kann man nicht stellen. Ich war bei denselben Ärzten in Pittsburgh drei Jahre lang in Behandlung. Es kann mir keiner sagen, ob ich CTE habe oder nicht. Meine Ärzte sagten mir aber: Mit meiner Krankengeschichte und den Symptomen ist die Chance, CTE zu entwickeln, sehr sehr groß. Aber es hat auch keinen Sinn, jetzt zu Hause zu sitzen und zu sagen, dass ich es habe. Bis Forscher einen Weg gefunden haben, diese Krankheit schon zu Lebzeiten zu diagnostizieren, versuche ich, so wenig wie möglich daran zu denken.

Es hieß im Film, ein Footballspieler habe von der frühen Kindheit bis zum Ende der 20-jährigen Profikarriere geschätzt 70.000 Kopfstöße eingesteckt. War auch bei Ihnen die ständige Wiederholung von Kopfstößen der Grund für die Erkrankung oder ein zu schnelles Zurückkehren aufs Eis nach einer Gehirnerschütterung, ohne das diese ausgeheilt war?
Ich glaube, bei mir war es beides, wie bei vielen anderen in meinem Alter auch. Mit Sicherheit war das Nichtausheilen der Hauptgrund, weil wir gar nicht wussten, wie wir mit der Verletzung umzugehen haben. Ich kann mich an Spiele erinnern – ich war in Pittsburgh –, da habe ich den Helm verloren, schlug mit dem Kopf aufs Eis und war bewusstlos. Ich musste raus, hatte eine Gehirnerschütterung. Doch am nächsten Tag habe ich wieder gespielt. Kopfschmerzen waren ja keine Verletzung. Wir wussten es eben nicht besser, ich wusste es nicht besser, weil ich keine Ahnung von den Symptomen oder den Konsequenzen hatte. Die Gehirnerschütterung, die mich dann komplett aus dem Spiel genommen hat, war sicherlich ein »Second Impact Syndrom«. Ich hatte also schon eine Gehirnerschütterung, die nicht ausgeheilt war, und bekam eine zweite dazu. Ich habe mit Dr. Michael Collins drei Jahre in Pittsburgh zusammengearbeitet. Auf der Basis meiner Testresultate geht er davon aus, dass ich in den 21 Jahren professionellen Eishockeys und den zehn Jahren vorher im Nachwuchsbereich zwischen 20 und 25 Gehirnerschütterungen hatte. Das sind natürlich viel zu viel.

Wurden die alle diagnostiziert?
Nein, diagnostiziert wurden nur sechs oder sieben.

Sind Sie jedes Mal zum Arzt gegangen, wenn Sie Kopfschmerzen hatten?
Nein.

Gibt es heute andere Vorgaben an die Spieler?
Die gibt es inzwischen bei uns in der Deutschen Eishockey Liga. Wir haben ein sogenanntes Concussion-Protokoll und sind durch mich natürlich extrem sensibilisiert in dieser Sache. Es kommt aber immer noch auf den Spieler an. Es gibt Checks, da sehen wir: Mit dem müssen wir jetzt darüber reden, wie es ihm geht. Aber es gibt auch Situationen, in denen wir uns darauf verlassen müssen, dass der Spieler zu uns kommt und sagt: Mir geht es nicht gut. Dann wird er sofort aus dem Spiel genommen. Wir lassen keinen im Spiel, von dem wir das Gefühl haben, dass er eine Gehirnerschütterung hat. Er muss dann ein Protokoll durchlaufen und Tests machen. Wir müssen uns zu 100 Prozent sicher sein, dass die Verletzung ausgeheilt ist, bevor er wieder am Training teilnehmen darf. Wir wollen alles tun, um unsere Spieler zu schützen.

Solche Protokolle gibt es auch in der Football-Liga NFL. Dort hat gerade ein Spieler mit einem gebrochenen Arm den Superball gespielt. Er meinte, nichts könne ihn davon abhalten, daran teilzunehmen, nicht mal ein gebrochener Arm. Hätte er auch mit einer Gehirnerschütterung selbst entscheiden dürfen?
Nein, das darf er nicht. Trotzdem bleibt immer das Problem, dass dich Spieler anlügen. Aber wir hoffen, dass Spieler durch viel mehr Aufklärung und auch durch die erschreckenden Dinge, die immer wieder passieren, endlich verstehen: Damit spaßt man nicht. Und ein Spiel allein ist es nicht wert, dieses Risiko einzugehen. Ich glaube, die Spieler sind inzwischen so sensibilisiert, dass sie das nicht mehr tun. Man hört auch von immer mehr Football-Spielern, die mit 30 ihre Karriere beenden, weil sie dieses Risiko nicht eingehen wollen. Es passiert immer mehr Positives.

Jugendspieler werden heute trotzdem noch immer von ihren Trainern dazu erzogen, hart zu sein, »durch den Schmerz« zu spielen, viel einzustecken, ohne zu murren. Muss sich an dieser Einstellung nicht etwas ändern?
Das Concussion-Protokoll gilt schon im Jugendbereich. Es muss vielleicht noch besser durchgesetzt werden, aber es wird versucht, sehr sehr viel zu tun, vor allem in Nordamerika. Es ist auch absolut notwendig.

Denken Sie, ein Spieler, der um einen Platz im Olympiakader kämpft, nimmt sich selbst raus, indem er dem Teamarzt von Kopfschmerzen berichtet? Sind wir schon so weit?
Nein, auf keinen Fall, aber es gibt immer wieder Beispiele, in denen doch richtig gehandelt wird. Ich hoffe, dass sich das in der Zukunft weiterentwickelt. Aber man sieht immer wieder, dass Spieler versuchen, mit einer Gehirnerschütterung zu spielen und die Verletzung geheimzuhalten.

Dabei ist genau dann die Gefahr einer weiteren Verletzung viel höher.
Viel, viel höher, absolut. Das »Second Impact Syndrom« hat vor allem bei Jugendlichen fatale Folgen. Ich habe die Zahl nicht im Kopf, aber in Nordamerika sterben pro Sportsaison fast 1000 Jugendliche am »Second Impact Syndrom«, also an der zweiten Gehirnerschütterung, wenn die erste nicht ausgeheilt war, manchmal sogar während des Spiels.

Chris Borland beendete trotz Auszeichnungen nach nur einer NFL-Saison seine Karriere, da er sich dem Risiko nicht mehr aussetzen wollte. Wünschen Sie sich, Sie hätten fünf Jahre früher aufgehört?
Das kann ich so nicht sagen, weil ich bis zu meinem letzten Check nie das Gefühl hatte, dass es einen Grund gibt aufzuhören. Es ist eine schwierige Frage. Ich hätte natürlich lieber nicht diese Probleme. Ich werde den Rest meines Lebens damit kämpfen und weiß nicht, wie es mir in fünf Jahren gehen wird. Ich weiß ja nicht mal, wie es mir morgen gehen wird. Das alles hätte ich natürlich lieber nicht. Aber ich bereue auf gar keinen Fall, dass ich Eishockey gespielt habe! Ich wünschte nur, ich wäre besser informiert gewesen, so wie viele andere auch. Niemand hat mich je zu irgendwas gezwungen. Ich habe immer alles gemacht, weil ich gedacht habe, es wäre das Richtige. Nun ist es so, wie es ist!

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