nd-aktuell.de / 19.02.2016 / Kultur / Seite 16

Es begann mit den Jakobinern

Gérard Noiriel hat eine opulente Geschichte des Asylrechts verfasst

Yolanta Schielmann

Das »Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge« - so der eigentliche Titel der Genfer Flüchtlingskonvention - wurde am 28. Juli 1951 verabschiedet. Das bis heute wichtigste internationale Dokument zum Schutz der Flüchtlinge weltweit definiert klar, wer als Flüchtling gilt und welchen rechtlichen Schutz sie oder er von den Unterzeichnerstaaten erhalten sollte. Festgelegt sind hier auch die Pflichten eines Flüchtlings gegenüber dem Gastland. Die Genfer Konvention, nebst Zusatzprotokoll von 1967, wurde bis dato von 147 Staaten unterschrieben und hat nach Auskunft der UN-Flüchtlingsorganisation (UNHCR) zum Schutz von bisher über 50 Millionen Menschen beigetragen.

Es war ein langer, steiniger Weg bis zur endlichen Kodifizierung der Hilfe für vor Verfolgung, Ausgrenzung, Terror und Krieg Flüchtende. Gérard Noiriel, Professor an der École Normale Supérieure in Paris, hat sich schon vor zehn Jahren mit der Geschichte des Asylrechts in Europa befasst. Denn schon Anfang der 1990er Jahre hat die französische Regierung eine Reihe von Maßnahmen verabschiedet, um den Zustrom von Flüchtlingen einzudämmen. Der Wissenschaftler fühlt sich verpflichtet, über historische Zusammenhänge aufzuklären, um so zum tieferen Verständnis der Ursachen für die aktuelle Krise des Asylrechts beizutragen. Sein 200 Jahre umfassendes opulentes Werk beginnt - wen wundert’s? - mit der französischen Revolution. Obwohl der Begriff des Asyls so alt wie die menschliche Zivilisation ist, wie ein Euklid-Zitat belegt: »Schutz gewinnt das Tier im Fels, der Sklave am Altar. Im Sturm der Not gewährt die Stadt der anderen Stadt Asyl ...«

Anfangs indes war das Asyl ein Akt der Gnade, von weltlichen oder geistlichen Herrschern gewährt und auch willkürlich wieder entzogen. Zu einem Menschenrecht machten es erst die Jakobiner. Und dies verdankte sich maßgeblich Saint-Just und Robespierre. In der jakobinischen Verfassung vom 24. Juni 1793 wurde verkündet, dass das französische Volk »alle um der Freiheit willen aus ihrem Vaterlande vertriebenen Ausländern Asyl gewährt«, Tyrannen hingegen ein solches verweigert. Das war der endgültige Sieg der entkonfessionalisierten, säkularen Asylkonzeption, die bis jetzt in Europa galt. Mit Ausnahme der Tatsache, dass westliche Demokratien schon so manchem gestürzten Tyrannen Unterschlupf gewährt haben.

Noiriel konzediert aber auch, dass das Asylrecht - kaum zu einem Grundsatz erhoben - in der Praxis schon wieder entstellt wurde. Der von der europäischen Reaktion dem revolutionären Frankreich aufgezwungene Verteidigungskrieg ließ alle im Lande lebenden Ausländer in den Verdacht geraten, potenzielle Feinde zu sein. Ein bissiger Nationalismus trat an die Stelle des »Universalismus« aus der Anfangszeit der Revolution, vermerkt der Autor.

Mit den politischen Unruhen und der wachsenden Macht der Nationalstaatlichkeit im 19. Jahrhundert stieg die Zahl politischer Flüchtlinge in Europa. »Jeder niedergeschlagene Aufstand in Italien, jeder Regierungswechsel in Spanien oder Portugal, zwang die jeweiligen Verlierer zur Flucht.« Nach dem gescheiterten Aufstand in Polen 1830 gegen die zaristische Fremdherrschaft emigrierten zehntausend Polen nach Frankreich. Dies wiederholte sich nach der Niederlage der europäischen 1848er Revolutionen. Die finanziellen Beihilfen für Emigranten von Seiten des französischen Staates betrugen viele Millionen Franc. Die Politik der öffentlichen Wohlfahrt ging aber zugleich einher mit einer Ausdehnung und Verfeinerung polizeilicher Überwachungstechniken.

Noiriel informiert auch über die verschiedenen Vereine und Komitees, die die Flüchtlinge und Verbannten in Empfang nahmen, unterstützten und ihnen die Solidarität der Bevölkerung versicherten. Das war 1933 nicht mehr so selbstverständlich. Schuld daran waren die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise. In Briefen an das Pariser Innenministerium beschwerten sich Bürger aller Schichten, Geschäftsleute und Handwerker, sogar Gewerkschaftsfunktionäre über die wachsende Zahl Ausländer, teils mit aggressiv-nationalistischem, antisemitischem Vokabular. Der Bürgermeister des 3. Arrondissement von Paris nannte die deutsch-jüdischen Flüchtlinge »menschlichen Abfall«; sie schleppten nur Krankheiten ein und gefährdeten die Moral. Andere hingegen versuchten die demokratischen Staaten Europas zu einer großzügigeren Aufnahme der von Hitler, Mussolini & Co. verfolgten Antifaschisten und Juden zu bewegen und gründeten Hilfsorganisationen. Sie trugen mit dazu bei, dass in die - auf der Völkerbundkonferenz 1938 in Evian formulierte - Definition des Flüchtlings zum ersten Mal die »Angst vor Verfolgung« einfloss.

Obwohl das internationale Flüchtlingsrecht in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen entstand - Noiriel erinnert explizit an die Aktivitäten des ersten Flüchtlingskommissars Fridtjof Nansen -, war der Völkerbund nie in der Lage, sich gegenüber den Mitgliedsstaaten praktisch durchzusetzen. Der Zweite Weltkrieg markiert eine Wende in der Geschichte des Asylrechts. Nicht nur, weil er die bis dahin größte Flüchtlingsbewegung ausgelöst hatte; Schätzungen gehen von 30 Millionen aus. Heute sind es doppelt so viele.

Die noch junge UNO gründete im Dezember 1946 eine provisorische Flüchtlingsorganisation, um die Millionen Displaced Persons, Zwangsarbeiter, Deportierte, Kriegsgefangene, von der NS-Germanisierungspolitik Betroffene etc. zurückzuführen. Die UNHCR und den Hohen Flüchtlingskommissar gibt es erst seit 1951.

Doch nicht nur einen historischen Exkurs wollte Noiriel bieten. Ihm geht es vor allem darum, aufzuzeigen, wie nach der Entstehung der Nationalstaaten die »Tyrannei des Nationalen« um sich griff. Der angebliche Schutz des nationalen Arbeitsmarktes trifft zuerst Asylbewerber. Noiriel konstatiert: »Letztlich hat die aktuelle Krise des Asylrechts ihre Ursache in der extremen Spannung zwischen einer weltweiten Ausdehnung der Wirtschaftsbeziehungen und dem protektionistischen Rückzug der Staaten, die ihr politisches Leben nach wie vor in einen engen nationalen Rahmen pressen.«

Gérard Noiriel: Die Tyrannei des Nationalen[1]. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa. A. d. Franz. v. Jutta Lossos u. Rolf Johannes. Zu Klampen Verlag, Springe. 313 S., br., 19,80 €.

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