Überall Schreie und Stöhnen

Die Hölle von Verdun - vor 100 Jahren begann eine blutige Materialschlacht. Von Gerd Fesser

  • Gerd Fesser
  • Lesedauer: 5 Min.

Um die Jahreswende 1915/1916 konkretisierten die militärischen Führungsstäbe der Ententemächte Frankreich, England, Russland und Italien einerseits sowie der sogenannten Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn andererseits ihre Pläne für die Kriegsführung. Die Militärs wussten natürlich, dass die Zeit für die Entente arbeitete, denn sie besaß an allen Fronten die zahlenmäßige Überlegenheit an Truppen und Ausrüstungen sowie größere Reserven an Menschen und Material.

Der deutsche Generalstabschef Erich von Falkenhayn entschloss sich, im Westen anzugreifen. Dort standen knapp 2,4 Millionen deutsche Soldaten 3,5 Millionen französischen, englischen und belgischen gegenüber. Angesichts dieses Kräfteverhältnisses war eine deutsche Offensive auf breiter Front unmöglich. Falkenhayn sah deshalb einen Angriff auf einem schmalen Frontabschnitt vor. Doch er suchte sich nicht etwa eine Schwachstelle innerhalb der gegnerischen Frontlinie aus, sondern wollte gegen das stärkste Bollwerk der gegnerischen Front, die befestigte Region Verdun, frontal anrennen. Dabei sollte ein gewaltiger Artilleriebeschuss erfolgen, der Angriff selbst aber nur von begrenzten Kräften - 140 000 Soldaten der deutschen 5. Armee - ausgeführt werden.

Die befestigte Region Verdun umfasste 20 Sperrforts und 40 kleinere Befestigungsanlagen, sogenannte Zwischenwerke. Zwischen den Forts befanden sich zahlreiche Betonunterstände und Maschinengewehrnester. Den Forts waren zudem noch drei sorgfältig ausgebaute Feldstellungen vorgelagert.

Am 21. Februar 1916 begann von Norden her der Angriff der 5. Armee gegen Verdun. In dem schmalen Angriffsstreifen hämmerten 1250 deutsche Geschütze, darunter 13 der gewaltigen 42-cm-Mörser, acht Stunden lang auf die französischen Stellungen ein. Der verheerenden Beschießung folgte der Infanterieangriff. Den Angreifern standen zunächst nur 40 000 französische Verteidiger gegenüber. Unter schweren Verlusten auf beiden Seiten überrannten die deutschen Truppen die äußeren französischen Stellungen. Am 25. Februar fiel überraschend das Fort Douaumont, das den nordöstlichen Eckpfeiler der französischen Hauptkampflinie bildete. Infolge eines Versehens der französischen Führung war im Fort vorübergehend keine Infanterie stationiert. So konnte die schwache Stammbesatzung von den Deutschen rasch überwältigt werden.

Einen Tag später erhielt General Philippe Pétain das Kommando über die Region Verdun. Binnen einer Woche wurden 190 000 französische Soldaten nach Verdun verlegt. An eine rasche Eroberung der Festung war nun nicht mehr zu denken. Es begann die erste jener furchtbaren Materialschlachten, die für die Kampfführung an der Westfront bis zum Kriegsende charakteristisch bleiben sollten.

Auf eng begrenztem Raum führten bei Verdun Hunderttausende deutsche und französische Soldaten einen erbitterten Kampf. Es gingen etwa 36 Millionen Granaten und Minen - darunter Hunderttausende von Giftgasgeschossen - nieder und wühlten buchstäblich jeden Handbreit Boden etliche Male um. Diese Materialschlacht brachte den kämpfenden Soldaten Leiden und Entbehrungen, deren grausiges Ausmaß man nur unvollkommen beschreiben kann. Die meisten der Soldaten mussten vor Verdun wochen- und monatelang unter freiem Himmel in Regen und Schlamm dahinvegetieren. Das pausenlose Artilleriefeuer zerrte an den Nerven und führte bei vielen Soldaten zu unheilbaren psychischen Erkrankungen. Verwundete konnten häufig nicht geborgen werden und gingen zwischen den Frontlinien qualvoll zugrunde. Oft gelangte über mehrere Tage hinweg keine Verpflegung nach vorn.

Ein deutscher Frontoffizier berichtete über den Alltag vor Verdun: »Von Gräben keine Spur; nur Grabenreste und Granatlöcher, meist mit Wasser und Leichen gefüllt. Wir trieften vor Nässe. Man zitterte vor Kälte am ganzen Leibe und musste doch stillhocken. Dann, als es heller wurde, ging das Schießen los. Minen und Granaten, schließlich Riesenminen, fielen mit unfehlbarer Sicherheit mitten in unsere Stellungen nieder. Sie hinterließen Riesenlöcher, die noch lange brannten. Es war zum Verrücktwerden. Bald gab es Verluste über Verluste. In bleierner Ergebung wartete man stumpfsinnig auf die Mine, die für einen selbst bestimmt war … Überall Schreien und Stöhnen, Heulen und Krachen, Dreck und Blut, Tote und Sterbende.«

Stur trieb die deutsche Führung ihre Soldaten immer wieder gegen die feuerspeienden französischen Befestigungsanlagen vor. Dabei wurden noch einige wenige Erfolge erreicht. Am 14. März fiel die Höhe »Mort homme« (Toter Mann), am 8. Mai die Höhe 304, am 7. Juni das Fort Vaux. Aber all diese begrenzten Erfolge waren mit Strömen von Blut erkauft.

Im Juli scheiterte der letzte deutsche Großangriff. Die Offensive britischer und französischer Truppen an der Somme zwang dann die deutsche Seite, sämtliche Reserven von Verdun abzuziehen. Am 29. August 1916 wurde Falkenhayn abgesetzt. Bei den Kämpfen von Verdun sind 143 000 deutsche und 163 000 französische Soldaten gefallen. Verdun ist seitdem ein Symbol für das Grauen und die Sinnlosigkeit der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs.

1920 veröffentlichte Falkenhayn seine Memoiren. Darin ist eine Denkschrift enthalten, in der es heißt, der General habe sie zu Weihnachten 1915 dem Kaiser vorgelegt. Der Denkschrift zufolge war es gar nicht beabsichtigt, Verdun zu erobern. Vielmehr sollte die französische Militärführung gezwungen werden, zur Verteidigung der Festung nach und nach alle ihre Reserven einzusetzen. Auf diese Weise sollte die französische Armee durch verlustreiche Kämpfe »ausgeblutet« werden. Hat Falkenhayn die Denkschrift nachträglich fabriziert, um seine Niederlage zu vertuschen? Was war sein wirklicher Plan?

Der General glaubte seit Ende 1914 nicht mehr an die Möglichkeit eines Sieges über die Entente. Er hoffte, Anfang 1916 bei Verdun die französische Front durchbrechen und danach zu einer erfolgreichen Offensive übergehen zu können. Diese Offensive sollte Frankreich nötigen, einem Verhandlungsfrieden zuzustimmen. - War Falkenhayn mit seiner unrealistischen Ermattungsstrategie gescheitert, so setzte sein Nachfolger Paul von Hindenburg unter dem Einfluss des Ersten Generalquartiermeisters Erich Ludendorff auf eine noch viel unrealistischere Vernichtungsstrategie. Hindenburg und Ludendorff jagten dem Phantom eines »Siegfriedens« nach, verfolgten ein uferloses Programm imperialistischer Kriegsziele und verlängerten so das Völkermorden um zwei Jahre.

Von unserem Autor erschienen u. a. im Donat Verlag »Herrlichen Tagen führe Ich euch noch entgegen! Das wilhelminische Kaiserreich 1890-1918« sowie bei PapyRossa »Das Deutsche Kaiserreich« und »Deutschland und der Erste Weltkrieg«.

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