nd-aktuell.de / 27.02.2016 / Kommentare

Herr Gabriel und die »eigenen Bürger«

Solidaritätsprojekt für Deutsche? Der Vorstoß des SPD-Chefs ist kein Beitrag gegen gesellschaftliche Spaltung. Tom Strohschneider über ein Manöver mit gefährlicher Melodie

Tom Strohschneider

In welcher Welt lebt eigentlich Sigmar Gabriel? Offenbar in einer, in der andere Gesetze der politischen Schwerkraft gelten. Der SPD-Vorsitzende lehnt sich jetzt so weit mit seiner Forderung nach einem Sozialpaket für Deutsche aus dem Fenster, dass praktisch nur noch die Frage offen ist, wie stark der Aufprall nach dem Herausstürzen sein wird. Angela Merkel solle sich fragen, »ob sie der sozialen Spaltung der Gesellschaft tatenlos zusehen will«. Hält Gabriel das Publikum für blöd?

Was zunächst gut klingen mag, ist in doppelter Weise kein Beitrag für eine politische Kurswende Richtung mehr Gerechtigkeit. Warum? Erstens, weil dem Ruf Gabriels nach sozialen Investitionen die Verweigerung so offen anzusehen ist, sich mit dem eigenen Beitrag zu eben jener Spaltung auseinanderzusetzen, die nun zum Gegenstand einer parteipolitisch motivierten Klage wird. In zwei Wochen wird in drei Bundesländern abgestimmt. Wer die Forderung des SPD-Chefs für ein vor allem darauf ausgerichtetes Manöver hält, wird nicht ganz falsch liegen.

Es gibt aber noch einen zweiten Punkt, der aus Gabriels angeblicher Initiative gegen soziale Spaltung genau das Gegenteil macht: einen Beitrag zur Vertiefung von Konkurrenz zwischen denen, die ohnehin nicht allzu viel haben. Seine plötzliche sozialpolitische Eingebung bleibt im Kern dem Gegeneinander-Ausspielen von Einheimischen und Flüchtlingen verhaftet: die Indienstnahme des Eindrucks, »wir würden unsere eigenen Bürger vergessen«.

Lieber Herr Gabriel, diesen Eindruck kann niemand haben, es kommt darauf an, was man unter »eigene Bürger« versteht. Und: Wer ist wir? Die SPD hat weder vergessen, daran mitzuwirken, die Daumenschrauben bei Erwerbslosen anzuziehen, noch blieb sie in den vergangenen Jahren tatenlos, wenn es darum ging, die Vermögenden zu schonen. In Gabriels Rede von »die Flüchtlinge - wir Deutsche« wird ein Gegensatz zwischen Oben und Unten zum Verschwinden gebracht, der quer zur Frage verläuft, woher jemand kommt. Und das »Solidaritätsprojekt«, von dem der SPD-Chef gesprochen hat, kommt zudem noch als Gegenmodell zur »Willkommenskultur« daher.

Die Forderung der SPD, von der Ideologie der Schwarzen Null abzukehren und Etatüberschüsse in soziale Investitionen zu leiten, ist im Grunde ja richtig. Dabei aber eine Melodie anzuschlagen, die von der Herkunft her denkt statt von der sozialen Lage von Menschen, ist kein Beitrag gegen soziale Spaltung, sondern Arbeit an einer bereits existierenden Kluft. Das gilt im übrigen nicht nur für den SPD-Vorsitzenden. Als links kann nur ein universeller Begriff von Gerechtigkeit gelten, einer, der nicht neue Spaltungen aufreißt, nicht neue Konkurrenzverhältnisse erzwingt.

Natürlich: Wenn viele Menschen hier Zuflucht suchen, kostet das Geld. Das Geld ist da, es ist aber ungerecht verteilt. Wenige Vermögende werden immer reicher, während für den großen Rest der Bevölkerung im Verhältnis immer weniger vom produzierten Reichtum übrig bleibt. Es gibt praktisch kaum einen Optimismus machenden Hinweis darauf, dass eine radikale Wende in der Verteilungspolitik bevorsteht. Gabriels Vorstoß ist jedenfalls keiner.

»Wenn die alles Geld für die Flüchtlingsintegration brauchen und die sozialen und kulturellen Angebote für die anderen Bürger deshalb gekürzt werden müssen, ist das sozialer Sprengstoff«, sagt der SPD-Chef mit Blick auf die Kommunen, die von Regierungen, an denen die Sozialdemokraten beteiligt waren oder sind, mit immer neuen Aufgaben belastet wurden. »Alles Geld«, das ist der Knackpunkt, geht von der Vorstellung aus, dass die gegenwärtigen Finanzierungsverhältnisse der öffentlichen Hand unveränderbar sind.

Wer sich aber auf die Logik einlässt, das Geld könne eigentlich nur denen hierzulande weggenommen werden, die es schon in der Vergangenheit nicht gerade üppig hatten, will nur der unbequemen Frage aus dem Weg gehen, wie man es zu Gunsten einer universell verstandenen Gerechtigkeitsidee umverteilen kann - also mit dem Ziel eines für alle, unabhängig von der Herkunft geltenden Anspruchs auf soziale, kulturelle und demokratische Teilhabe. Soziale Garantien verdienen diesen Namen nur, wenn sie für alle gültig sind. Eben für »die Bürger«. Und nicht nur für die, die Gabriel als die »eigenen« bezeichnet.