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Halluzinationen sind nicht bloß Betriebsstörungen

Bei Wahnbildern ergänzt das Gehirn Wahrnehmungen zu gut.

  • Frank Ufen
  • Lesedauer: 4 Min.

Jeweils zwei Versuchspersonen sitzen sich im Abstand von einem Meter bei schummerigem Licht gegenüber. Sie starren einander zehn Minuten lang intensiv und ohne eine Miene zu verziehen in die Augen, denn sie glauben, an einem Meditationsexperiment teilzunehmen. Was dann passiert, hat der italienische Psychologe Giovanni Caputo (Universität Urbino) erforscht. Das erstaunliche Ergebnis: 90 Prozent der Probanden gaben zu Protokoll, dass sich die Gesichtszüge ihres Gegenübers seltsam verändert oder verzerrt hätten. Und 75 Prozent erklärten sogar, sie hätten das Gefühl gehabt, einem Ungeheuer ins Auge geblickt zu haben. Es ist demnach nicht sonderlich schwer, bei Menschen Halluzinationen auszulösen. Doch wie kommen sie zustande?

Dass Menschen glauben, etwas objektiv Vorhandenes wahrzunehmen, obwohl es in Wahrheit bloß in ihrer Vorstellung existiert, ist ein alltägliches Phänomen. Solche Täuschungen oder Halluzinationen kann es in sämtlichen Bereichen der Sinneswahrnehmung geben. Häufig kommt es vor, dass Menschen etwas zu sehen, hören, fühlen, riechen oder schmecken vermeinen, ohne dass entsprechende Reize auf ihre Sinnesorgane einwirken würden. Es ist aber auch ohne Weiteres möglich, dass Menschen die Empfindung haben, sie würden fallen oder schweben, oder der eigene Körper würde von außen bewegt werden, oder innere Organe hätten ihre Position verändert, oder Insekten würden über ihre Haut krabbeln, oder irgendein Wesen würde sie berühren, sie packen oder zu erwürgen versuchen - obwohl all das nicht der Fall ist.

Die Auslöser von Halluzinationen können unter anderem Schlafmangel, hohes Fieber, extreme soziale Isolation, Schlaganfälle, Unterkühlung, Drogen, Medikamente oder Psychosen sein. Also liegt die Vermutung nahe, dass Halluzinationen dann auftreten, wenn die Informationsverarbeitung des Gehirns als Folge von Betriebsstörungen nur schlecht funktioniert. Hierfür scheinen auch die Befunde einer Untersuchung zu sprechen, die der britische Neurowissenschaftler Jon Simons (Universität Cambridge) vergangenes Jahr durchgeführt hat. Simons hat entdeckt, dass bei Menschen, die unter Schizophrenie leiden, ein Gehirnareal, der Sulcus paracingularis, häufig etwas verkürzt ist. Und diese Verkürzung fällt am stärksten bei solchen Schizophrenie-Patienten aus, die außerdem von Halluzinationen geplagt werden.

Doch kürzlich sind der britische Neurowissenschaftler Christoph Teufel und seine Kollegen von den Universitäten Cardiff und Cambridge zu der Erkenntnis gelangt, dass die Betriebsstörungs-Hypothese offenbar falsch ist. Die Wissenschaftler berichten über ihre Forschungsergebnisse im Fachjournal »PNAS« (DOI: 10.1073/pnas.1503916112)

Vieles spricht dafür, dass jede Wahrnehmung zu erheblichen Teilen eine Konstruktion des Gehirns ist - wobei das Gehirn durch Schlussfolgerungen auf der Basis all dessen, was es schon weiß, lückenhafte und mehrdeutige Informationen der Sinne in klar und eindeutig erscheinende Repräsentationen der Welt verwandelt. »Wenn wir unsere Augen öffnen, haben die meisten von uns den Eindruck, dass wir über ein sehr klares Bild von der Welt da draußen verfügen«, erklärt Teufel. »Aber in Wirklichkeit ist das nicht der Fall. Wir benutzen das, was wir schon wissen, um eine eindeutige Repräsentation von ihr zu erzeugen.«

Geleitet von dieser Hypothese, haben die britischen Wissenschaftler eine Reihe von Experimenten durchgeführt. Zunächst wurde den Probanden - 16 psychisch gesunden Personen und 18 Personen mit ersten Anzeichen einer Psychose - eine Reihe von Schwarz-Weiß-Bildern vorgelegt. Auf diesen ziemlich bizarr anmutenden Bildern, bei denen es sich schlicht um verfremdete Farbfotos handelte, waren nur schwarze und weiße Flecken, jedoch keinerlei Grautöne zu finden. Die Testpersonen sollten versuchen, auf den einzelnen Bildern Menschen oder irgendwelche Gegenstände zu erkennen.

Wie nicht anders zu erwarten, kamen die Testpersonen mit der Aufgabe nur schlecht oder überhaupt nicht zurecht. Doch sie bekamen eine zweite Chance. Zunächst wurden ihnen die unverfremdeten Originalaufnahmen gezeigt, dann die verfremdeten ein weiteres Mal. Und jetzt kam ein großer Unterschied zutage: Zwar erzielten sämtliche Versuchsteilnehmer höhere Trefferquoten als vorher. Doch die Probanden mit leichten psychotischen Symptomen erwiesen sich im Identifizieren von Gesichtern und Objekten als durchschnittlich doppelt so gut wie die Probanden ohne diese Beeinträchtigung.

Christoph Teufel und seine Kollegen schließen daraus, dass das Gehirn von Menschen, die halluzinieren, nicht defekt ist, sondern eher zu »gut« funktioniert. Es neige einfach dazu, bei der Verarbeitung von Sinnesdaten in hohem oder auch zu hohem Maße auf früher gespeichertes Wissen zurückzugreifen und deswegen in die Sinnesreize mehr hineinzudeuten, als tatsächlich in ihnen steckt. »Das deutet darauf hin, dass diese Symptome und Erfahrungen nicht ein ›kaputtes‹ Gehirn widerspiegeln, sondern eines, das auf ganz natürliche Weise versucht, sich einen Reim auf die von außen eintreffenden Reize zu machen«, erklärt Naresh Subramaniam, einer der Mitstreiter Teufels.

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