Schminke im Blut

Jerry Lewis wird 90

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 2 Min.

Das Gesicht: Gummi. Sozusagen Lachgummi. Jerry Lewis ist US-Amerikas Tonfilmantwort gewesen auf Chaplin und Keaton, Airbuckle und Turpin. Also: geniale Versuche, die Arschkarte als größten Poker zu lancieren. Lyrik hat eben weltweit ein Massenpublikum: Alle lieben die Katastrophe. Der man selber entgeht.

Jerry Lewis aus New Jersey. Ein Tingelbruder schon mit achtzehn. Als habe ihn der Vater angesteckt, ein Nachtklub-Sänger, bei dessen Auftritten der kleine Joseph immer in der ersten Reihe saß. Statt Erziehung Transfusion: »Ich hatte beizeiten Schminke im Blut.« Mit dem Kitsch-Caruso Paul Dino Crocetti bildete er 1945 ein Duo, das bis zu sieben mal am Tag auftrat und pro Woche an die 300 000 Doller verdiente. Ein Ruhm-Rumor wie später nur bei Rockstars. Crocetti als Lover, Lewis als Kasper. Der Kasper sahnte ab, der Lover stand unterfordert daneben. Trennung im Streit. Zwanzig Jahre lang böses Schweigen zwischen Lewis und Schnulzen-Coretti. Der behielt seinen Künstlernamen: Dean Martin. Als er 1995 starb, tobte Lewis am Grab: »Du Hurensohn! Hättest mich mitnehmen sollen. Egal, was uns dort oben erwartet.«

Der Blödelbarde. Der Tolpatsch-Titan. Der Nachäffer mit Träumen vom Eigensinn. Lewis drehte Erfolgsfilme (»Der Regimentstrottel«, »Geisha Boy«, »Hallo, Page«, »Der verrückte Professor«). Am Ende wirkte er wie der ausgelaugte Kaugummi, dem ein Schicksal an der Unterseite eines Kneipentisches droht. Und da plötzlich: Lewis leise, fein differenzierend als kalt professioneller Showmaster an der Seite von Robert De Niro in Martin Scorseses »King of Comedy«. Grandiose Wandelbarkeit. Immer wieder. Und privat ebenso gigantisch: Er sammelt über zwei Milliarden Dollar für Muskelkranke, wird 1977 für den Friedensnobelpreis nominiert. Er selber hatte Prostatakrebs, ihm blutete der Magen, ein Wirbel brach - da wollte das Herz nicht abseits stehen und steuerte einen Infarkt bei. Siebzehn Sekunden lang war er klinisch tot, und er gilt als ein Mann der ausgleichenden Leidenschaften: Mit dem Alter nahmen die Sehnsüchte ab, die Tablettensucht wuchs.

Regisseur, Produzent, Drehbuchautor, Sänger. Erst kürzlich wurde bekannt, dass er 1972 den Film »The Day the Clown Cried« drehte. In der Hauptrolle: er selber. Ein deutscher Clown im Konzentrationslager - er soll Kinder ins Gas begleiten. Der lustige Judenmord. Gefrierkost. Monatelange Recherchefahrten in ehemalige Vernichtungslager. Am Ende: Abbruch, Verschluss des Films. Lewis: »Schlecht, schlecht, schlecht - es hätte wundervoll werden können, aber ich habe mich vertan.«

Das Kind sieht und weiß nicht. Der Erwachsene weiß und sieht nicht. Der Clown als letzter Partisan der Kindheit, bevor die Vernunft den Menschen fasst und fesselt. Neunzig Jahre alt wird Jerry Lewis heute.

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