nd-aktuell.de / 19.03.2016 / Politik / Seite 15

Verfeinerung
der Natur

In Thüringen kann man die Kunst 
des Obstbaumschnitts erlernen

Danuta Schmidt
Der Agraringenieur Michael Grolm betreibt in Tonndorf eine Obstbaumschnittschule. Angehenden Baumwarten bringt er bei, einen Obstbaum so zu beschneiden, dass er lange lebt.

Jetzt ist die beste Zeit, Obstbäume zu schneiden. In erster Linie geht es bei einem Obstbaum um die Frage der Haltung. Einen Obstbaum zu schneiden, heißt, ihn so zu schneiden, dass er seine Haltung stärkt und bewahrt, so lange wie möglich, am besten hundert Jahre lang. Das wäre im Interesse von Michael Grolm, dem Leiter der Thüringer Obstbaumschnittschule. Seit sechs Jahren bildet der Agraringenieur in Tonndorf sogenannte Baumwarte aus, die diese Kunst beherrschen. Der Berufsimker war damit der erste in Deutschland.

»Für mich ist der Obstbaumschnitt die Verfeinerung der Natur, es ist Kultur. Kultur heißt Bewahren und Schützen. Der Schnitt hat nichts Zerstörerisches, doch er ist ein komplexes Thema.« Es ist bei Obstbäumen wie bei Kindern. Was man in der Erziehung der ersten Jahre versäumt, holt man nicht mehr oder nur noch sehr langsam auf. Ob das Kind prächtig wächst und sich gut entwickelt, hängt, wie beim Obstbaum, von vielen Faktoren während der ersten Jahre ab: genetische Mitgift, Standort, Wetter und Erziehung. Der Agraringenieur Michael Grolm beschäftigt sich seit 30 Jahren mit dem Obstbaumschnitt und zeigt nun Interessierten, wie sie durch gezielte Handgriffe Obstbäume zu hundertjährigen gesunden Lebewesen machen. Das ist nachhaltig, denn die meisten Obstbäume sterben in Deutschland bereits nach 25 Jahren. Unsere Kinder haben nichts mehr von diesen Bäumen.

Michael Grolm kommt vom Land, seine Großeltern bewirtschafteten in den Weserauen einen Bauernhof. Für die Natur interessierte er sich schon als Jugendlicher. Damals wurde der Junge von den Eltern und von Freunden über sein eigenwilliges Interesse an Obstbäumen belächelt. Seine Lieblingsbeschäftigung war damals, Bäume auszugraben und sie an den Feldwegen wieder einzupflanzen. Warum er das gemacht hat? »Der Abstand zwischen den Bäumen der Ausgleichsmaßnahmen, die es seit den 80ern gibt, hat nicht gestimmt. Sie waren viel zu eng gesetzt, haben sich gegenseitig Licht und Nährstoffe weggenommen. Die Bäume brauchen doch Platz zum Wachsen!« Das Motto schien »Pflanzen und Vergessen« zu sein. Diese Erkenntnis hatte Michael Grolm bereits als 15-Jähriger. »Das will ich ändern.« So klar war sein Ziel. Während andere mit Mopeds durch die Gegend rasten oder Bravo-Seiten wälzten, kletterte Grolm auf Bäume. Später wurde er einmal Deutscher Meister im »Kirschkern-Weitspucken« (23,61 Meter), die Folge seiner jahrelangen Leidenschaft. Sein Berufswunsch war schnell fokussiert. Michael Grolm machte eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner. »Ich war enttäuscht, denn über den Obstbaumschnitt habe ich dort nichts gelernt.« Seinen wahren Meister fand er in seinem Landwirtschaftsstudium in Witzenhausen bei Kassel. Dort spezialisierte er sich auf den ökologischen Landbau. Das »Sorten bestimmen« hat ihm allerdings nicht gereicht, er wollte alles über Bäume wissen. Der Student traf auf Hans-Joachim Bannier, einen Mann, mit dem Grolm heute zusammen die Baumwartausbildung durchführt.

»Viele gehen davon aus, dass der Baum von alleine wächst. Das macht er ja auch, doch wächst er nicht immer optimal. Er braucht einen guten Schnitt.« Bei den Obstbäumen unterscheidet man Niederstämme und Hochstämme. Die meisten Obstbäume, Niederstämme, werden nur 25 Jahre alt. Sie werden ausschließlich auf Erträge geschnitten. Danach haben sie keine Kraft und keine Funktion mehr. Niederstämme finden sich in jeder Kleingartenanlage. Zu niedrigstämmigen Obstbäumen ist bereits sehr viel geforscht, sehr viel geschrieben worden. Es gibt Dutzende Bücher über den richtigen Schnitt von Niederstämmen. Anders ist dies bei Hochstämmen. Hochstämme sind leistungsfähiger und können bis zu 100 Jahren alt werden. Das sind Obstbäume, deren Äste sich erst ab 1,80 verzweigen, unter denen man hindurchlaufen, unter denen Erntemaschinen durchfahren können, ohne die Äste abzubrechen. Hochstämme findet man in Deutschland an Straßenrändern, Alleen und vor allem auf Streuobstwiesen. Auf diesen Wiesen leben 5000 verschiedene Lebewesen. Es ist der artenreichste Lebensraum in Europa. Streuobstwiesen sind Kulturlandschaften, ein Ergebnis der Arbeit von Menschen.

»Es ist eine Kunst, den Obstbaum richtig zu schneiden« sagt der 44-jährige Schneidexperte. Er bewirtschaftet mehrere Streuobstwiesen am Schloss Tonndorf bei Bad Berka. Seit sechs Jahren bildet er sogenannte Baumwarte aus. Das sind Menschen, die Obstbäume professionell schneiden können. In 100 Stunden, das sind vier Kurseinheiten über das Jahr verteilt, lernen die Schüler Wichtiges über den Baum im Jahreslauf.

Jeweils an vier Wochenenden lernen die angehenden Baumwarte die Kunst des richtigen Schnitts, der genügend Licht in den Baum lässt und Leitäste so wachsen lässt, dass sie den Gesamtbaum stabilisieren. Das bedeutet, der Baum muss eine Spitze haben, Leitäste - und klar, einen Stamm. Zur Ausbildung kommen Gärtner, Naturschützer, Baumkletterer, Mitarbeiter aus den Städten und Kommunen, Landschaftsarchitekten, Leute, die im Garten mehr als fünf Obstbäume stehen haben. Was ist das Ziel? »Wir vermitteln das Handwerkszeug dafür, dass der Baum so wenig wie möglich Arbeit macht. Je besser die Planung, desto wirkungsvoller die Nutzung.« Der Agraringenieur Grolm, der seit zehn Jahren mit der Familie im thüringischen Tonndorf lebt und arbeitet, weiß, dass letztendlich das Alter und die jährlichen Erträge von der Statik des Baumes abhängen.

Professionell schneiden heißt außerdem, dass der Baum im Jungstadium in den ersten 15 Jahren jedes Jahr, im Alter erst alle zwei bis drei, später alle fünf bis zehn Jahre geschnitten wird. Der Jungbaum sollte jedes Jahr nachkorrigiert werden, auch ein Schnittfehler kann noch ausgemerzt werden. Mit dem Obstbaumschnitt verhält es sich wie mit der Erziehung beim Menschen: Am Anfang muss man noch viel lenken, später seltener, und die Älteren müsse man mit ihrer Persönlichkeit behutsam behandeln. »Viele denken, sie müssten bei jungen Bäumen vorsichtig, zaghaft und bei alten radikal verschneiden.« Dabei ist es umgekehrt. »Und lieber regelmäßig kleinere Schnitte als zu große Schnittwunden. Alles bis zu einem Schnitt-Durchmesser von fünf Zentimetern verkraftet der Baum gut.« Ein Altbaum, so Grolm, müsse nach dem Schnitt so aussehen, als sei er nie geschnitten worden. Und der junge Baum müsse aussehen wie ein gerupftes Huhn.Wichtig ist beim Schnitt die Statik der Äste: die Äste dürfen im Alter nicht unter der Last brechen, sie sollten nach oben streben und nicht zu sehr herunterhängen. Michael Grolm hat dazu eine Handdruckprobe und Fingerfruchtprobe erfunden. »Der Schnitt ist ein Mix aus Statik und Licht im Baum, die Leitäste haben einen 43 Grad Winkel. Es darf kein Totholz entstehen, der Baum soll sich nach allen Seiten gleichmäßig entfalten.«

Die angehenden Baumwarte lernen neben dem Schneiden verschiedene Obstsorten kennen, alte Sorten, Thüringer Sorten, deren Veredlung und Befruchtung, Krankheitsbilder. Alle Baumwarte, die durch die Thüringer Obstbaumschnittschule gegangen sind, gehören einem Netzwerk an, das Michael Grolm deutschlandweit verwaltet. Wer in Schleswig-Holstein oder Sachsen eine Streuobstwiese oder einen alten Obstbaumgarten professionell schneiden lassen will, kann sich einen Baumwart über dieses Netzwerk bestellen. »Der Nachteil der Ausbildung ist, dass Baumwarte in der Landschaft sofort Verschnitt und verwahrlosten Wildwuchs erkennen, also am liebsten sofort Hand anlegen wollen.« Eine Baumwartausbildung gibt es auch in Baden-Württemberg, weitere Bundesländer ziehen nach. Derzeit sind in Deutschland etwa 150 Baumwarte aktiv.

Der Obstbaumschnitt ist die Königsdisziplin der Baumpflege. »Wer einen Obstbaum schneiden kann, kann jeden Baum schneiden«, sagt Grolm.

Die nächsten Termine für die Baumwartausbildung: Die einjährige Ausbildung beginnt am 11. März in Tonndorf, außerdem gibt es Einführungs-, Obstbaumkletter- und Veredlungskurse. Seit diesem Jahr findet auch eine zweijährige Ausbildung in Tonndorf und Bielefeld statt. Hier wird vertieft für Leute, die als Multiplikatoren aktiv sind, also selbst Baumwarte ausbilden wollen. Anmeldungen sind möglich unter: www.obstbaumschnittschule.de[1]

Links:

  1. http://www.obstbaumschnittschule.de