Kaum Hoffnung in Idomeni

Die Lage der Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze bleibt katastrophal

  • Fabian Köhler, Idomeni
  • Lesedauer: 6 Min.
Noch immer leben mitten in Europa Tausende Menschen in einem Abgrund aus Schlamm und Verlassenheit. Hoffnung gibt ihnen lediglich die Aussicht auf ein Machtwort Merkels.

Es ist kurz nach 23 Uhr als Abdullatif beschließt, nicht mehr auf Angela Merkel zu warten, seine Isomatte einrollt und losläuft. »Gibt es Neues von der Grenze? Neues aus Brüssel …? Nein?«, fragt er ein letztes Mal und verschwindet hinter den ausrangierten Bahnwaggons. Hinter ihm liegen zwei Jahre Flucht und die bisher unerfüllte Hoffnung auf ein Leben. Nicht auf ein besseres, sondern überhaupt eines: Seine Schwester ist tot, seine Eltern sind zu alt und krank, um zu fliehen, seine Heimat ist zu zerstört, um zu bleiben. Vor ihm blinken die roten Warnleuchten von den Gipfeln des Belasiza-Gebirges, jener natürlichen Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien aus einer Zeit, als es noch keinen NATO-Draht gab.

Der nächtliche Aufbruch ist Abdullatifs vierter Versuch, Idomeni zu entkommen. Was bis vor einigen Monaten nur der Name eines unbedeutenden Bahnhofs irgendwo im griechisch-mazedonischen Niemandsland war, gilt nun als Symbol für das Versagen Europas in der Flüchtlingspolitik. Ein Versagen allerdings, auf das stets Verlass ist, wann auch immer an Europas Grenzen vermeintlich europäische Werte auf die Probe gestellt werden: Melilla, Lampedusa, Lesbos, Calais … Und nun also Idomeni, ein Abgrund aus Schlamm, Lungenentzündung und politischer Bigotterie.

»Hätte ich sterben wollen, wäre ich zu Hause bei meinen Eltern geblieben«, erzählt der 24-jährige Abdullatif am Abend, bevor er losläuft. Die Spannung in dem kleinen Bahnhofsgebäude gleicht der in den entscheidenden Minuten eines wichtigen Fußballspiels. Nur, dass das Treffen der EU-Minister in Brüssel, bei dem auch über das Schicksal der 12 000 Flüchtlinge in Idomeni entschieden werden soll, nicht im Livestream läuft, es ohnehin keine Steckdose gibt und niemand hier allzu große Hoffnung in die eigene Mannschaft setzt. Gäbe es in Brüssel tatsächlich eine Mannschaft, die für die Öffnung der Grenze spielte, die Flüchtlinge in Idomeni würden sie wahrscheinlich »Team Merkel« nennen. »Weißt du, ob sie die Grenze schon geöffnet haben? Nein …? Wir hoffen auf Merkel… Inschallah…« Die Worte fallen meist mit einer Monotonie, die entweder der häufigen Verwendung oder der Resignation geschuldet ist. Wahrscheinlich beidem.

Im Fernseher laufen seit Wochen Bilder, wie man sie vielleicht seit dem Jugoslawienkrieg nicht mehr aus Europa kannte. Noch immer drängen sich die Übertragungswagen um die wenigen asphaltierten Plätze, auf denen man in Idomeni nicht im Schlamm versinkt, und senden jene Bilder, die es auch in der x-ten Wiederholung nicht vermögen, Europa wachzurütteln.

Wenn das Foto des ertrunkenen syrisch-kurdischen Jungen Aylan Kurdi die europäische Flüchtlingspolitik hätte ändern können, müssten die Bilder aus Idomeni eigentlich eine humanistische Revolution auslösen: Neugeborene im eiskalten Wasser, Kindersocken im NATO-Draht, Familien, die sich an einem brennenden Haufen Müll das Abendessen zubereiten. Tausendfaches Warten im Stacheldrahtverhau unterm Blechdach für einen Plastikbecher Tee und eine Orange. Mitten in Europa.

»Wir schlafen, stehen irgendwo an und schlafen wieder«, sagt Mohammed aus Syrien. In Damaskus hat der 24-Jährige englische Literatur studiert. Dann schlugen drei Raketen in das Nachbarhaus ein. Ein Jahr hat er sich in der Türkei mit unterbezahlten Aushilfsjobs durch- und überbezahlten Schleppern herumgeschlagen - bis er in Europa Zuflucht fand. Nicht durch staatliche Behörden, sondern bei der kurdischen Familie im Nachbarzelt. »Weißt du, wann die Grenze aufmacht?«, ist auch die erste Frage des 50-jährigen Omar. Mohammeds neuer Familienvater schlägt schon vor der Antwort resigniert die Augen nieder, er weiß, was gleich kommt. »Linsensuppe?«, schlägt er sie wieder auf und schüttet den Inhalt aus der verkohlten Dose mit der »2-Liter-Bohnen«-Aufschrift in den ausgespülten Pappbecher. »Das dort drüben sind drei meiner Kinder«, sagt er und zeigt auf drei Personen im Grundschulalter, die gerade versuchen, nasses Holz zum Brennen zu bringen. Bei der Frage nach seiner Frau schließt er die Augen wieder.

Tausendfach wurden Geschichten wie jene von Mohammad und Omar schon erzählt und vermochten es doch nicht, die Mächtigen dazu zu bewegen, den Worten über Europas Werte Tatsachen Folgen zu lassen. Hinter jedem verschmutzten Zelteingang wartet die nächste Tragödie: Der 50-jährige Ali arbeitete als Polizist in Somalia. Als die Schabab-Miliz zum dritten Mal einen Anschlag auf ihn verübte, flüchtete er. Nun scheucht er morgens die Ratten aus dem Müll, um Brennbares gegen die Kälte zu sammeln. Die 28-jährige Ranja arbeitet als Apothekerin im syrischen Deir Azzur. Sie entkam der Terrorgruppe »Islamischer Staat« (IS), ihr Mann nicht. Nun schlägt sie sich allein durch: mit zwei Kindern und schwanger. Der 34-jährige Fatih trainierte Kickboxing in Syrien. Nun schlafen er, seine Frau und die beiden Kinder seit drei Wochen auf einem Tankstellenparkplatz.

Zwei Zapfsäulen weiter sitzt Suleiman vor seinem Zelt. Wie rund 100 andere meist kurdische Flüchtlinge hat er sich in das »Camp Tankstelle« zurückgezogen. Das ist gut, weil die asphaltierten Auffahrten verhindern, dass Zelte im Schlamm versinken. Das ist schlecht, weil die Flüchtlinge hier größtenteils ohne die Unterstützung von Hilfsorganisationen auskommen müssen. Suleiman ist vielleicht der einzige Schutzsuchende, der die Flucht nach Deutschland schon hinter sich gebracht hatte und trotzdem wieder hier gelandet ist. Schuld ist - sagt er - neben dem IS die Berliner Ausländerbehörde. »Die wollten die Kopie unserer Heiratsurkunde nicht anerkennen«, redet er sich auch noch bei der dritten Wiederholung der Geschichte in Rage. »Soll ich zurück zum IS und fragen, ob ich bitte eine Heiratsurkunde für das Ausländeramt haben dürfte?« Eigentlich habe er seine Ehefrau per Familiennachzug nachholen wollen, nun tut er es eben zu Fuß über den Balkan. Oder doch nicht? »Vielleicht kehren wir doch nach Kurdistan zurück. Oder gibt es doch Neues von der Grenze?«

Der Widerspruch zwischen der Gewissheit einerseits, dass seit Wochen einfach gar nichts darauf hindeutet, dass die Grenze irgendwann geöffnet wird, und der Unmöglichkeit des Umkehrens andererseits ist nicht nur in den Worten der Flüchtlinge spürbar: Am Bahngleis hat ein junger Mann aus Damaskus die verbreitete Resignation versucht in Worte zu fassen. »Wir haben den Krieg überlebt. Aber wegen euch wünsche ich, ich hätte es nicht«, hat er auf ein Schild geschrieben. Den ganzen Tag steht er dort bis ihn am späten Nachmittag griechische Polizisten auffordern, den Weg frei zu machen. Für einige Minuten öffnet sich das Grenztor in Richtung Mazedonien: für den Güterzug, nicht für Menschen.

Ein paar Schlammpfützen weiter verteilen Bagger und Planierraupen noch mehr Resignation auf dem durchweichten Acker. Stunden später ist das nächste Großzelt von Ärzte ohne Grenzen aufgebaut. Die Bedrohung, dass das Lager dauerhaft bestehen bleibt, ist allgegenwärtig: Auf der Hauptstraße des Camps haben die ersten Händler ihre Gemüsestände aufgebaut. Einige Flüchtlinge bieten im Bauchladen Zigaretten an. Die Gewinnspanne pro Packung: 20 Cent. Am Grenzzaun präsentiert ein Kurde stolz den Graben, den er um sein Zelt angelegt hat. Zusätzliche Entwässerungsrinnen sollen in den nächsten Tagen die Nachbarzelte miteinander und alles zusammen mit einem eigenen Wasserreservoir verbinden. Dort schlagen zwei Männer Pfähle für Wäscheleinen in den Boden. Auf der anderen Seite des Lagers ziehen Afghanen Bäume auf einem improvisierten Schlitten aus einem kargen Wäldchen durch den Matsch. Und noch immer laufen neue Gruppen mit Isomatten über den Gleisschotter in Richtung Camp.

Einer von ihnen ist Abdullatif. Am Morgen nach seinem Ausbruchversuch sitzt er wieder am Lagerfeuer aus brennendem Müll. »Diesmal haben sie uns nicht gekriegt«, freut er sich und zeigt die blauen Flecken an jenen Stellen, die beim letzten Mal von den Knüppeln der mazedonischen Polizisten getroffen wurden. »Kaffee oder Tee?«, will er wissen. Und ob es Neues von Merkel gebe.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal