Was das für Zeiten waren

»1913« als Puppentheater

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

In Peter Sodanns Tagen gab es das nicht: Nackerte auf der Bühne! Da war der Prinzipal dagegen, der vor 35 Jahren begann, die Kulturinsel mitten in der Altstadt von Halle (Saale) zu (be-)bauen. Jetzt, da der Intendant des Neuen Theaters, Matthias Brenner, alles, was dort versammelt ist, pflegt und mit einigem Erfolg am Leben zu erhalten versucht, sind die Sitten lockerer. Aktuell lässt da sogar Alma Mahler die Hüllen fallen und Oskar Kokoschka seine Hosen. Er fällt über Alma her - zum Beischlaf auf offener Szene. Allerdings wäre diese Art von Sex auf offener Bühne auch früher schon durchgegangen. Im Hallenser Puppentheater treiben es nämlich Puppen miteinander. Alles kein Problem, denn hier ist auch das Puppentheater unter Christoph Werner etwas für Erwachsene.

Wir erfahren zunächst, wo Florian Illies erst studiert, dann die Feuilletons bestimmt hat und dass er Bestseller schreibt. Solche wie »1913 - Der Sommer des Jahrhunderts«, in dem wir uns gerade befinden. Womit sich gleich zwei Bringt-das-etwas?-Fragen auf einmal stellen. Nämlich die nach dem Mehrwert von vertheaterter Literatur auf der Bühne und die, ob die Puppen einen zusätzlichen Effekt bringen. In Halle lassen sich beide Fragen schnell mit einem klaren »Ja« beantworten.

Das Feuerwerk der Miniaturen europäischer Promis, deren gemeinsamer Nenner das letzte Friedensjahr vor dem Weltkrieg ist, ist so lehrreich wie amüsant. Einzige Voraussetzung ist, dass man mit den Namen der Mitspieler etwas anfangen kann, die allesamt, dank ihrer Puppenmutter Louise Nowitzki, so aussehen, wie sie die Nachwelt kennt. Es treten - jeder auf seiner Bühne - auf: der albträumende und Beinaheliebesbriefe schreibende Franz Kafka und der tatsächlich ebensolche fabrizierende Rainer Maria Rilke in der Badewanne. Der mit einer »13«-Phobie kämpfenden Erfinder der Zwölftonmusik, Arnold Schönberg, und der selbstverliebte, aber vor dem Urteil eines Alfred Kerr zitternde Thomas Mann. Eine verloren vor sich hinschaukelnde Else Lasker-Schüler - und die beiden Wilden, die man auch nackt sieht.

Die damals aktuelle und künftig drohende Weltpolitik wird durch den berlinernden Kaiser Wilhelm II. und den wienernden Franz Josef (nebst quengelndem Thronfolger) vertreten, vor allem aber durch die beiden Kandidaten für die schlimmsten Diktatorenposten des Jahrhunderts: Hitler und Stalin. Franziska Rattay, Ivana Sajevic, Nico Parisius, Christian Sengwald und Louise Nowitzki sorgen im flottem Wechsel für die Statements aus dem Alltag dieses Who-is-Who-Personals von 1913. Bald so, als würden die Puppen selbst sprechen. So entsteht eine Collage zu einem Zeitgefühl, in dem der große Krieg keine Option schien, die Moderne in der Kunst vor allem modern und noch nicht unbezahlbar war und der eine oder andere an nobelpreiswürdiger Literatur, zumindest aber an seinem Nachruhm arbeitete. Das waren Zeiten!

»1913 - Der Sommer des Jahrhunderts« von Florian Illies, Puppentheater Halle, nächste Termine: 26. u. 27.3., 20.4.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal