An der Seite der Schwächeren

Horst-Eberhard Richter über seine Freundschaft mit Inge und Stefan Heym

  • Lesedauer: 5 Min.
Die Geburtsstunde unserer Freundschaft war die Friedenswerkstatt 1982 an der Ostberliner Erlöserkirche gewesen. Wir hatten von beiden Seiten schnell herausgefunden, dass wir einander mochten und aufeinander neugierig waren. Stefan war im Westen als kritischer demokratischer Sozialist bekannt, dessen letzte Bücher in der DDR nicht verlegt werden durften. Die Friedenswerkstatt war der passende geistige Ort, wo wir unsere Nähe zueinander entdecken konnten, beiderseits im Abstand zu den Obrigkeiten des Kalten Krieges. Fortan hatten wir uns regelmäßig in Ostberlin, aber auch in Gießen getroffen. Als ich Stefan 1982 kennen gelernt hatte, war dieser - nach seinen eigenen Worten - »die bekannteste Unperson der DDR, Fernsehpersönlichkeit, Spezialist für Ost-West-Deutsches, sozialistische Absonderlichkeiten, gelegentlich auch Psychological Warfare, Holocaust«. Beschäftigt war er gerade mit der romanhaften Beschreibung einer freien, demokratisch-sozialistischen Utopie in Anlehnung an eine reale Vorlage, nämlich an eine kleine selbst organisierte Gesellschaft, die es 1945 in einer besatzungsfreien Region Deutschlands um den Ort Schwarzenberg gegeben hatte. Schwarzenberg, das war für Stefan ein Modell seines unerfüllten Lebenstraums. Was uns beide verband, war das Bedürfnis, mit einem kritisch nachfragenden, geduldigen, wohlwollenden Zuhörer über die eigene Geschichte zu reden. Zu einem gemeinsamen Sommerurlaub hatten wir uns mit beiden Frauen in Zermatt getroffen, wo Bergrun und ich mit den Kindern, neuerdings auch mit Enkeln, alljährlich die Berge zu genießen pflegten. Zwei Wochen lang hatten Stefan und ich einander dort unsere Lebensgeschichten erzählt, während wir auf der Täschalp, auf dem Roten Boden oder auf der Fluhalp herumspazierten.
Nicht nur weil ich zehn Jahre jünger als Stefan, sondern weil ich viel später als dieser politisch erwacht war, kam ich mir rückständig vor. Der andere hat bereits als Schüler mutig gegen das Regime angedichtet und sich gerade noch durch Flucht als 19-Jähriger retten können. Warum hatte ich mich als Schüler und später als Soldat nur in mein Inneres verkrochen und nicht mehr gewagt? Aber auch der ältere jüdische Freund lebte mit Selbstvorwürfen. War er etwa am Tod seines Vaters schuld, den die Nazis statt seiner verhaftet hatten? Hätte er sich stellen sollen, statt zu fliehen? - Der Früh-Erwachsene und der Spät-Erwachsene hatten das politische Zeitgeschehen ähnlich reflektierend verarbeitet, der eine dichter an der Tagesaktivität, lange Jahre als Journalist, der andere eher mit der sozialpsychologischen Innenseite politischer Strömungen beschäftigt. Aber beide mit ihren Interessen stets nahe an der Basis, an der Seite der Schwächeren. Ihr erster Treffpunkt, die Friedenswerkstatt, war der rechte geistige Ort für ihre Verbindung gewesen, nämlich eine Werkstatt zur Pflege einer Basisopposition gegen die atomare Bedrohungsstrategie der Herrschenden beider Seiten.
Einmal wurden wir beide dazu herausgefordert, aus dem Stegreif so etwas wie einen geistigen Standort zu beschreiben. Das war auf dem Kirchentag 1987 in Frankfurt gewesen. Da hatte uns der Journalist Gerhard Rein zu einem öffentlichen Gespräch eingeladen. Der fragte uns unvermittelt zu unseren Gedanken über Gott und die Realität. Stefan wies auf sein (faszinierendes) Buch »Ahasver« hin und führte aus: »In dem Buch gibt es viele Leitfiguren. Der eine hießt Luzifer und ist natürlich der Teufel. Der andere heißt Ahasver und ist der Ewige Jude. Aber der Ahasver in meinem Buch ist nicht nur der Ewige Jude, er ist auch ein gefallener Engel wie Luzifer. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass Luzifer sagt: "Diese Welt, die Gott geschaffen hat, die stinkt, und alles, was man zu tun braucht, damit sie zu Grunde geht, ist, sie so weitermachen zu lassen, und am Ende werden sie sich selbst vernichten!" Das ist die große Idee des Teufels, die teuflische Idee. Dieser Ahasver ist aber ein Revolutionär. Er sagt: Gut, es ist nicht alles richtig, diese Schöpfung ist nicht vollkommen, aber es ist meine Aufgabe, unsere Aufgabe, das zu ändern. Die Menschen sind veränderbar, die Welt ist veränderbar.«
Ich selbst wurde in meinen einschlägigen Ausführungen zu weitschweifig, wie es ohnehin meine Unart ist, hier aber wohl Verlegenheit ausdrückte, eine so anspruchsvolle Frage zu beantworten. Würde der Mensch in der westlichen Kultur dazu vorstoßen können, sich mit seiner kreatürlichen Mangelhaftigkeit auszusöhnen, oder würde er starrsinnig darauf beharren, »dass wir hier im Westen im Bereich der Freiheit und der Menschlichkeit leben und es drüben mit einem Reich der Aggression, der Finsternis und der Bedrohung zu tun haben? Das führt dazu, dass hier ein großer Teil der Menschen die "eigenen" - wenn ich das so sagen darf - Atomraketen als hilfreich empfindet. Nicht zufällig werden die häufig mit Götternamen aus der Antike versehen. Ich weiß nicht, ob Ihnen das schon einmal aufgefallen ist, dass diese amerikanischen Raketen Nike, Herkules, Poseidon, Titan oder Saturn heißen. Das ist genau der Ausdruck, dieser eigenen Gottesidentifizierung: Wir produzieren selbst unsere Götter. Unsere Götter sind unsere gefährlichen Maschinen, die wir entsprechend benennen, diese todbringenden Raketen. Die halten wir aber für gut, weil sie gegen Luzifer, den Teufel, das Reich der Finsternis gerichtet sind. Ich glaube, die Überwindung dieses manichäischen Dualismus, der Wille, sich von dieser Einteilung der Welt in die beiden unversöhnlichen Reiche zu lösen, muss zu einem neuen Denken und einem grundsätzlichen politischen Wandel führen.«
Wird dieses neue Denken kommen? Stefan endete mit dem optimistischen Ausblick: »Ich meine, wir können sehr viel tun. Den Beweis, dass das möglich ist, erbringen Sie alle hier.« Wodurch? Durch den auf dem Kirchentag spürbaren Geist? Durch die hier versammelte Hoffnung aus dem Inneren? Eine unerwartete Offenbarung des sonst eher nüchternen Realisten. Aber es gab eine Berührung auf dieser Ebene zwischen dem politisierenden Romanschriftsteller und dem politisierenden Psychoanalytiker: beide zutiefst enttäuscht von dem Abgleiten der Politik in die Irrationalität der atomaren Bedrohung, beide unbeirrbar in dem Glauben an die menschliche Kraft zum Besseren und an die eigene Chance, etwas bewegen zu können.

Erinnerungen des Psychoanalytikers Prof. Horst-Eberhard Richter an Stefan Heym, nachzulesen im Buch »Wanderer Zwischen den Fronten. Gedanken und Erinnerungen«, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln.
Heute um 11Uhr ist die Trauerfeier für Stefan Heym auf dem Jüdischen Friedhof, Berlin-Weißensee.
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