Berlin wurde aus Protest kurzerhand umbenannt

Eine Autostunde westlich von Toronto leben bis heute »Fischköppe«, Rheinländer und Urenkel pfälzischer Einwanderer. Gern erzählen sie ihre Exilgeschichten

  • Stephan Brünjes
  • Lesedauer: 6 Min.
Und wie kam Andreas Christophersen als Koch ausgerechnet nach Kitchener? »Faxen dicke vom Leibwächterjob, umgeschult, wollte eigentlich in die Karibik, Zwischenstation im ›Concordia‹, Frau kennengelernt, hängengeblieben - noch Fragen?«

Moment mal - spinnt das Navi? Wieso fahren wir mitten in Kanada auf der Hessenstraße nach Heidelberg? Warum geht es rechts nach Bamberg, in dieselbe Richtung aber auch nach Mannheim? Und wie kommt New Hamburg in diese Ecke? Bis eben war es eine Landpartie im Mietwagen durch Ontarios liebliches, grünes Hügelland, vorbei an weißen Weidegattern, grasenden Kühen und kleinen Farmen. Dieser vor den Autoscheiben vorbeiflimmernde Naturfilm mutiert nun jäh zu einem Roadmovie mit »Irgendwas-stimmt-hier-doch-nicht«-Anfangsverdacht. Also aussteigen, stirnrunzelnd Ortsschilder studieren und mal den Bauern an seinem Straßenobststand um Aufklärung bitten.

Der Mann trägt Schwarz vom Breitkrempenhut bis zur Sohle, sagt »hallo« und »wie heischt du?«. Nanu - ein Exil-Schwabe? Nein, Aden Sauder ist Mennonit, Angehöriger einer evangelischen Freikirche, benannt nach dem Reformationszeit-Prediger Menno Simons. Adens pfälzische Vorfahren, so erzählt er, wanderten ab 1680 zunächst in den US-Bundesstaat Pennsylvania aus, dann etwa 120 Jahre später weiter nach Ontario, wo sie viele Dörfer mit deutschen Namen im Umkreis von etwa 50 Kilometern gründeten.

Hier, eine Autostunde westlich von Toronto, sprechen die Mennoniten bis heute einen süddeutsch-niederländischen Dialektmix und prägen das Straßenbild: Statt Autos fahren sie schwarze Kutschen auf eigens eingerichteten, geschotterten Straßenrandstreifen, meist gezogen von zwei Pferden, für die es vor den Supermärkten eigene Parkplätze gibt - mit Stroh- und Wassertankstellen. Doch hier kaufen nur moderner eingestellte Mennoniten ein, die auch mal Sonnenbrillen tragen und verreisen, während strenggläubige, extrem sesshafte »Old Order Mennonites« wie Aden Sauder eher in »General Stores« wie den von Vera Brubacher gehen. Ein Tante-Emma-Laden mit Verkäuferinnen in altmodischen Schürzenkleidern und Kopfhauben, die Haferflocken abwiegen, Multivitaminprodukte der Marke »Hoffnung« empfehlen und ihren Käufern zum Abschied ein Heft mit Bibelgeschichten namens »Tägliches Manna« mitgeben.

Diesen Laden entdeckt, wer mit Warren Stauch unterwegs ist. Der 72-jährige ehemalige Geografielehrer bietet spannende Tagestouren durch Ontarios deutscheste Ecke an, kennt sie besser als seinen eigenen Vorgarten. Wie viele »old german families« hier seit Generationen leben, zeigt er mit einem Blick über den Friedhof: An Weber, Busch, Meyer, Goldschmidt oder Stoltzfus erinnern die Grabsteine. Spannender als solche erstarrten Namen aber sind jede Menge überraschende Begegnungen mit Exil-Deutschen - etwa im Baden-Hotel: Eigentlich wollte Warren seinen Gästen nur kurz einen Blick in diesen schönen, heute als Kneipe genutzten Rotklinkerbau der Kleinstadt Baden werfen. Doch dann ist da dieses verschnörkelte Schild: »Stammtisch«. Und dahinter Ernst Stoiber. Der 51-Jährige erzählt, immer donnerstags hätten sich an diesem Tisch Matt, Diego, Chris und Shawn getroffen. »Hey, ihr habt einen Stammtisch«, sagte er nach ein paar Monaten zu dem Quartett, schmiedete ihnen in seiner Autowerkstatt das Schild und montierte noch eine Glocke, mit denen die vier nun ihr Bier herbei läuten. Seitdem heißt Ernst nur noch »Mr. Stammtisch«.

Spätestens jetzt sind unsere Augen und Ohren im Germanmodus, erwartungsvoll fokussiert auf weitere deutsche Töne, Menschen und Momente. Schon schräg, inmitten einer Kulisse aus Sojabohnenplantagen, Vom-Winde-verweht-Landhäusern und amerikanisch anmutenden Straßendörfern. Heidelberg heißt eines, und hier, in »Stemmlers« Feinkostladen, freuen sich die drei Verkäuferinnen hinter der Käsetheke ebenso über deutschen Besuch wie Hans Pottkamper, der mit zwölf Jahren vom Niederrhein hierher auswanderte und immer noch »Augenblickchen« sagt, wenn er im Gespräch nach deutschen Wörtern sucht. Die sind der Wochenzeitung »Independent« schon länger abhanden gekommen - jahrzehntelang erschien das Blatt aus New Hamburg auf deutsch, erzählt Martha in ihrer winzigen Redaktionsstube.

Nun will Warren die deutscheste aller deutschen Ontario-Städte zeigen. Obwohl, einen deutschen Namen hat sie schon mal nicht. »Nicht mehr«, präzisiert Warren mit erhobenem Zeigefinger: »Berlin hieß die heimliche Hauptstadt der Ontario-Germans bis 1916, wurde damals, am 19. Mai, als Protest gegen Weltkriegsgegner Deutschland umbenannt und heißt bis heute Kitchener - nach einem britischen Feldmarschall und Kriegsminister.« Dennoch, Deutsches und Deutsche gibt es reichlich in der ein wenig konturlosen 217 000-Einwohner-Stadt: das weltweit zweitgrößte Oktoberfest etwa. Oder im erholsamen Victoria-Park diesen leeren Denkmalsockel. Kanadische Soldaten rissen einst die Kaiser-Wilhelm-Statue herunter und warfen sie in den angrenzenden See. Und weil die Mansion Street damals Kaiser-Straße hieß, haben Anwohner diesen - ebenfalls getilgten - Namen vor ein paar Jahren wieder in eine Gehwegplatte eingravieren lassen.

Ein Hort ewig gestriger Monarchieanhänger also, dieses Kitchener? Keineswegs! Denn viele Deutsche kamen erst nach dem Zweiten Weltkrieg her. So wie Gustav und Edeltraud Petsche. In ihrem Schuhladen an der King Street wollten sie 1954 deutsche Qualitätsmarken verkaufen. Doch Salamander & Co trauten diesen emsigen, unbekannten Auswanderern zunächst nicht und belieferten sie erst, als Gus Petsche, wie er sich inzwischen nannte, ein Empfehlungsschreiben des deutschen Konsuls nach Deutschland schickte, erzählt Tochter Anita Petsche. Sie hat bewusst Bibliothekswesen studiert und an der Uni gearbeitet, um den Laden nicht übernehmen zu müssen, leitet ihn aber nun doch. Die 60-Jährige konnte weder das Lebenswerk ihrer Eltern einfach so ignorieren, noch deren Stammkunden, die nach wie vor für Birkenstock-, Romika- oder Rohde-Treter in den Verkaufsraum kommen.

Vier deutsche Klubs gibt es in Kitchener, und einen müssen wir wenigstens besuchen, meint Warren - den »Concordia«. Unter wuchtiger Holzbalkendecke, eingerahmt von staubigen Asbach-Uralt-Magnumflaschen, Butzenscheiben und deutschen Wappen, baut gerade die »Black Forest Band« ihr Schlagzeug auf. Wir suchen schon nach Notausgang und Notlüge, um diesen arg tümelnden Ort bald wieder zu verlassen, da fliegt die Küchentür auf: »Moin, moin - hoffe, ihr habt Kohldampf!«, dröhnt eine freundliche Seebärenstimme. Sie gehört Andreas Christophersen, Koch im Concordia Club. Er hat nicht nur Scholle Finkenwerder Art und Rote Grütze auf die Speisekarte gesetzt, sondern auch Helmut Schmidt bewacht - als Personenschützer in den Siebzigern. »Arrogant war er«, erinnert sich der 57-jährige Eutiner, »der grüßte uns ja nicht mal!« Ganz anders Kanzleramtsminister Hans-Jürgen Wischnewski: »Wenn wir mit Ben Wisch nach Wahlkampfauftritten oder Sitzungen nachts nach Hause fuhren, dann rief der seine Frau an, damit sie für uns noch Essen in die Pfanne haut.«

Schnell denkt im Concordia Club keiner mehr an Flucht, denn schon wieder sind wir mittendrin in einer deutschen Überraschungsbekanntschaft und gehen im Rahmen von Andreas Christophersens Erzählungen sogar virtuell auf spannende Zeitreise: mit »Ben Wisch« nach Somalia (Geld als Dank für die Geiselbefreiung von Mogadischu übergeben) und ins Kölner Rotlichtviertel (Politiker bewachen und dabei nur spaßgebremsten O-Saft trinken dürfen). Und wie kam Christophersen als Koch ausgerechnet nach Kitchener? »Faxen dicke vom Leibwächterjob, umgeschult, wollte eigentlich in die Karibik, Zwischenstation im ›Concordia‹, Frau kennengelernt, hängengeblieben - noch Fragen?« Ja, reichlich. Weshalb es eine lange Deutschstunde wurde, im »Concordia« zu Kitchener - dem ehemaligen Berlin.

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