Nicht unbedingt aller Laster Anfang

Bildungsrauschen

  • Lena Tietgen
  • Lesedauer: 3 Min.

Neben Wollust, Neid, Geiz und Zorn, Völlerei und Hochmut zählt die Faulheit zu den sieben Todsünden christlicher Theologie. Martin Luther gab die Weisung aus, dass kein Mensch von Arbeit sterbe, wohl aber von »ledig und müßig gehen«. Und so wurde das Sprichwort »Müßiggang ist aller Laster Anfang« zum Motto unserer Lern- und Arbeitshaltung. Die Verachtung der Muße und mit ihr des Müßiggangs nahm in den letzten Jahrzehnten skurrile Ausmaße an. Just in time, Multitasking, Erreichbarkeit heißen einige zur Doktrin gewordenen Losungen menschlichen Seins.

Das ist paradox, da gleichzeitig Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften zu anderen Ergebnissen kommen. Gerade in der Lernforschung wird das Nichtstun als schöpferische Notwendigkeit bewertet. Ohne permanenten Input kann unser Gehirn sich auch mal mit sich selbst beschäftigen: »Es verarbeitet Gelerntes, sortiert das Gedächtnis und greift dabei auch auf unbewusst aufgeschnappte und längst wieder vergessene Informationen zurück.« (gluecksdetektiv.de) Bei der Meditation, dem Tagtraum und im Schlaf arbeiteten andere Hirnregionen als beim zielgerichteten Denken. Zudem führe der Müßiggang zu Stressabbau und stärke das Immunsystem, fördere so die Regeneration.

Der Buchautor und Ex-Schuldirektor Manfred Molicki gründete zusammen mit dem Leiter der Europäischen Fachhochschule in Neuss (EUFH) die Gesellschaft für Zeitkultur einschließlich deren Plattform zeitkultur.com. Molicki kritisiert eine Beschleunigungskultur, die auch vor Schule nicht halt mache. Er konstatiert ein immer höheres Lernpensum, das aber nicht dazu führe, dass die Schüler mehr könnten. »Die permanente Zeitbeschleunigung in der Schule, die Organisation von Lernen durch Zeitmangel, wie sie gegenwärtig weitgehend praktiziert wird, verringert permanent das, was einmal ›Bildung‹ hieß.« Damit Kinder wieder eine Gedanken- und Ideenwelt aufbauen könnten, sollten sie »Müßiggang erleben«. In der derzeitigen Schule gelte nicht mehr der gute, sondern der schnelle Schüler als erfolgreich.

Molicki warnt vor einem »Zeitinfarkt« und fordert eine Umkehr zu einer Kultur der Zeit. Während die Schule des 19. Jahrhunderts eine »Stoffschule« gewesen sei, die sich um den Kanon herum organisierte, handele sich es bei der Schule des 20. Jahrhunderts um eine Methoden- und Medienschule. Jetzt im 21. Jahrhunderts bräuchte es eine »Zeitkultur-Schule«, in der sowohl Schüler als auch Lehrer Methoden im bewussten Umgang mit Zeit erarbeiteten. Zeitkompetenz sei so etwas wie eine »Generalschlüssel-Qualifikation«, die es erst ermögliche, dass andere Schlüsselqualifikationen wie Fach-, Methoden-, Sozial- und Personalkompetenz nachhaltig entfaltet werden könnten. Diese Kompetenz erlange man auch durch Muße.

Wie schrieb schon der dänische Philosoph Søren Kierkegaard vor mehr als 150 Jahren: »Müßiggang ist nichts Übles, ja man muß sagen: Ein Mensch, der für diesen keinen Sinn hat, zeigt damit, daß er sich nicht zur Humanität erhoben hat«. (gutzitiert.de)

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