Tradition auf dem Abstellgleis

Der Bombardier-Konzern will sein Werk in Görlitz schrumpfen - mit fatalen Folgen für die Stadt

  • Hendrik Lasch, Görlitz
  • Lesedauer: 6 Min.
Bombardier will 700 Jobs in seinem Werk in Görlitz streichen. Düstere Aussichten für die Stadt, in der seit 167 Jahren Waggons gebaut werden. Die Belegschaft ist zu allem entschlossen.

Deutsche Bahnreisende verdanken Görlitz die Fahrt in der zweiten Etage, mit erhabenem Blick aus dem Zugfenster auf die draußen vorbei fliegende Landschaft. Der Doppelstockwagen wurde in der Stadt an der Neiße zwar nicht erfunden, aber im Jahr 1935 radikal modernisiert. Für die Hamburg-Büchener Eisenbahn wurde damals ein Modell entwickelt, bei dem einzelne Waggons zu einem sausenden Schienenwurm verschmolzen. Gebaut wurden sie hinter historischen Mauern aus Ziegel bei der Waggon- und Maschinenbau AG Görlitz (WUMAG); auf die Bahngleise entließ man sie durch ein Fabriktor, das mit seinen Pfeilern und dem Giebel fast wie ein Tempel wirkt.

Das Tor gibt es noch; es steht an einem Ende einer Straße, die nach Christoph Lüders benannt ist, dem Mann, der im Oktober 1849 die Tradition des Waggonbaus in Görlitz begründete. Noch im April 1998 diente es als Kulisse für die erste Ausfahrt eines neuen Neigetechnik-ICE. Damals hatte der kanadische Konzern Bombardier gerade die Deutsche Waggonbau AG gekauft und damit auch deren Werk in Görlitz übernommen. Wer heute Lüders’ Nachfahren besuchen will, wird an dem Tor aber nicht mehr fündig. Vor einigen Jahren wurde das alte Werk I geräumt. Einige Gebäude bezog die Polizeidirektion; viele Werkhallen wurden abgerissen und wichen einem Parkplatz. Waggons werden nun nur noch im früheren Werk II gebaut, an dessen Leichtbauhallen nichts mehr an die lange Firmengeschichte erinnert.

Vielleicht ist das Kalkül. Seit 167 Jahren werden in Görlitz nun Waggons gebaut, »aber Bombardier interessiert das nicht die Bohne«, sagt Volker Schaarschmidt. Er ist Chef des Betriebsrates im Werk - und derzeit stocksauer auf den Konzern. Bombardier hat angekündigt, bis Ende des Jahres 1430 Jobs an seinen drei ostdeutschen Standorten streichen zu wollen: in Hennigsdorf, Bautzen sowie in Görlitz, wo allein 700 Stellen wegfallen sollen. Der Kahlschlag soll zudem nur die »erste Welle« sein; eine zweite mit weiteren Entlassungen steht im Raum. Das Unternehmen verweist auf den beinharten internationalen Wettbewerb, auf die Notwendigkeit, schneller und effizienter zu produzieren. Um das zu schaffen, soll das Werk in Bautzen, das bisher auf Straßenbahnen spezialisiert war, mit dem in Görlitz zu einem »Kompetenzzentrum« vereint werden: An der Neiße entstünden die Rohbauten, an der Spree erfolgte der Innenausbau. Zugleich aber wird in Görlitz die Entwicklungsabteilung fast dicht gemacht - die laut Schaarschmidt erst unlängst um 100 auf 240 Mann aufgestockt worden war: »Man kann sich vorstellen, wie die Stimmung ist.«

Wer dem Betriebsratschef zuhört, bekommt eine Ahnung vom unsteten Agieren eines Konzerns, in dem Aktienkurs und Gewinn viel zählen und Tradition oder regionale Verwurzelung wenig. Einigen der Konstrukteure sollen Jobs im drei Autostunden entfernten Hennigsdorf angeboten werden, was nicht nur ältere Ingenieure, die in Görlitz vielleicht ein Haus gebaut haben, vor Gewissenskonflikte stellt: Bleiben und den guten Arbeitsplatz einbüßen oder wegziehen und Familie, Freunde, die Heimat aufgeben? Es sind Entscheidungen, die man in Bombardiers Chefetage wohl schwer nachvollziehen kann. Dieter John, der als Europapräsident der Schienensparte noch im März eine Bestandsgarantie für einzelne Werke ablehnte, wurde seither abgelöst und durch zwei Nachfolger ersetzt - einer von vielen, die Schaarschmidt hat kommen und gehen sehen im »Managerkarussell« des Konzerns.

Dabei mutet ein Umzug der Jobs aus der Oberlausitz nach Brandenburg aus Sicht des Konzerns wohl fast an wie eine Fahrt mit dem Vorort-Zug. Ein Gutteil der Entwicklungsarbeit soll künftig gar nicht mehr in Deutschland, sondern in Indien erledigt werden. Es ist eine Entscheidung, wie sie in den Neunziger- und Nullerjahren viele Unternehmen trafen - die aber vielerorts inzwischen wieder korrigiert werden. Nicht, weil die Firmen eine Art Heimatgefühl entdeckt hätten, sondern weil sie feststellen mussten, dass sich die Globalisierung trotz niedriger Lohnkosten in Ländern wie China oder Indien oft nicht rechnet: zu langwierig die Abstimmung, zu spät die Lieferung, zu schlecht die Qualität. Viele Unternehmen holen die Arbeit nach Deutschland zurück; nicht so Bombardier. Dort, sagt Schaarschmidt ernüchtert, »macht man die gleichen Fehler immer noch weiter«.

Verbieten kann man das den Vorständen nicht. Unternehmerische Freiheit schließt auch die Freiheit ein, Unsinn zu machen. Ausbaden müssen das indes Mitarbeiter, ihre Familien, ihre Stadt. Mirko Schultze fürchtet für Görlitz daher Schlimmes: »Wenn so ein Traditionsunternehmen geht, kippt die Stimmung«, sagt der Politiker, der für die LINKE in Stadtrat und Landtag sitzt. Er rechnet vor, was an Kaufkraft verloren geht, wenn 700 Waggonbauer nicht wissen, ob sie Weihnachten noch Arbeit haben; er verweist auf Folgen für die Stadt, die Gewerbesteuer kassiert. Vor allem fürchtet Schultze einen Knick im Selbstvertrauen: Die »gefühlte Wertigkeit« von Bombardier sei »eben eine andere als die eines Herstellers von Felgen oder Holzpellets«, wie es sie in der Umgegend auch gibt.

Um Psychologie aber dreht sich viel in der Oberlausitz, einer Region, die sich erst in jüngerer Zeit zu stabilisieren beginnt, nachdem sie »25 Jahre Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit erlebt hat«, wie Sachsens SPD-Wirtschaftsminister Martin Dulig sagt. Zwar ist die Arbeitslosigkeit in der Region heute nicht einmal mehr halb so hoch wie 1998, als Bombardier neu an die Neiße kam und der damalige Vizepräsident versprach, man wolle sich »langfristig engagieren«. Damals war jeder vierte Görlitzer ohne Arbeit; im März 2016 lag die Arbeitslosenquote bei 11,5 Prozent. Die IHK ist zuversichtlich, dass viele jener, die bei Bombardier den Job zu verlieren drohen, in anderen Firmen unterkämen. Dort aber wird meist kein Metalltarif gezahlt. Befürchtet wird, dass vor allem jüngere Arbeiter den guten Löhnen nachziehen und die Region weitere fähige Köpfe und Hände verliert.

Die entscheidende Frage in den nächsten Wochen wird sein, ob man sich in Görlitz in ein scheinbar unabwendbares Schicksal fügt - oder ob man sich wehrt. In der Stadt herrscht bisher eher Stille; zu einem Aktionstag Mitte März sprach zwar Siegfried Deinege, der vor seiner Wahl zum Rathauschef viele Jahre zur Führungsriege im Görlitzer Waggonbau und bei Bombardier gehörte. Ladeninhaber oder andere Bürger aber fehlten. In der Belegschaft dagegen brodelt es, sagt Jan Otto, Chef der IG Metall in Ostsachsen: Statt die Arbeiter anstacheln zu müssen, habe die Gewerkschaft derzeit sogar eine »befriedende Funktion«. Nicht, dass sie den Konflikt herunterkochen will: Im März versprach Otto, wenn Bombardier von seinen Plänen nicht abrücke, »gibt es hier Krieg«.

Vorerst setzen Gewerkschaft und Betriebsrat aber auf ein eigenes Konzept für die Werke in Görlitz und Bautzen. Das Tauziehen mit der Chefetage ist in vollem Gange; es geht darum, ob Bombardier die notwendigen Kosten trägt und das ausgewählte Beratungsunternehmen akzeptiert. Mit einem erneuten Aktionstag an diesem Donnerstag soll der Druck erhöht werden; in Görlitz erwartet wird laut Otto dabei auch Laurent Troger, Präsident von Bombardier Transportation. Am Mittwoch soll im sächsischen Landtag auf Antrag der Linkspartei unter der Überschrift »Entscheidungen über den Industriestandort Sachsen - drohender Arbeitsplatzverlust bei Bombardier - Gründe für das hilflose Agieren der Staatsregierung« das Thema diskutiert werden.

Zugleich legt die Gewerkschaft schon härtere Bandagen bereit. Eine eigens gewählte Tarifkommission soll Gespräche über einen Sozialtarifvertrag ermöglichen - und, falls dieser verweigert wird, auch Streiks. »Wir werden eine Beschäftigungs- und Standortsicherung fordern«, sagt Otto und klingt entschlossen. Die Zeiten gemütlicher Bahnfahrten im Doppelstockzug sind in Görlitz erst einmal vorbei.

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